Page - 102 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Abgrund war. Keinem wird wohl in seiner Nähe, und doch zieht er die
Nächsten magisch an. Keiner verläßt ihn ganz, der ihn kannte, und doch hält
keiner bei ihm durch: der Druck seiner Atmosphäre, die Überhitzung seiner
Leidenschaft, die Übertreibung seiner Forderungen (von jedem fast fordert er
gemeinsamen Tod!) sind zu übermächtig, daß ein zweiter sie ertrüge. Jeder
will zu ihm, jeder scheut vor seinem Dämon zurück; jeder fühlt, daß er nur
durch eine Spanne von Tod und Untergang getrennt ist. Wie ihn Pfuel in Paris
abends nicht zu Hause findet, stürzt er in die Morgue, ihn unter den
Selbstmördern zu suchen. Wie Marie von Kleist eine Woche lang nichts von
ihm hört, jagt sie ihren Sohn: er soll ihn aufsuchen und Entsetzliches
verhindern. Die ihn nicht kannten, halten ihn für gleichgültig und kalt. Die ihn
kennen, schauern und erschrecken vor dem finsteren Feuer, das ihn verzehrt.
So kann ihn keiner anfassen und stützen: den einen ist er zu kalt, den andern
zu heiß. Nur der Dämon bleibt ihm getreu.
Er weiß es selbst, daß es »gefährlich ist, sich mit mir einzulassen«, wie er
einmal sagt. Deshalb klagt er auch keinen an, der sich von ihm
zurückgezogen; wer ihm nahe war, hat sich versengt an seinem Feuer.
Wilhelmine von Zenge, seiner Braut, hat er durch Intransigenz seiner
moralischen Forderungen die Jugend verstört, Ulrike, der Lieblingsschwester,
das Vermögen weggelebt, Marie von Kleist, die Herzensfreundin, läßt er leer
und vereinsamt zurück, Henriette Vogel reißt er mit sich in den Tod. Er kennt
die Gefährlichkeit seines Dämons, die furchtbare Fernwirkung seines Innern:
so zieht er sich immer mehr, immer krampfhafter in sich selbst zurück, macht
sich noch einsamer, als die Natur ihn schuf. Ganze Tage verbringt er in den
letzten Jahren mit der Pfeife im Bett, schreibend und dichtend; selten nur geht
er aus, und dann meist »in Tabagien und Kaffeehäuser«. Seine
Unmitteilsamkeit wird immer vehementer, immer mehr geht er den Menschen
verloren; als er im Jahre 1809 auf ein paar Monate verschwindet, notieren
seine Freunde gleichgültig seinen Tod. Er fehlt niemandem, und endete er
sein Leben nicht dann derart melodramatisch, so hätte keiner sein Fortsein
bemerkt, so stumm, so fremd, so undurchdringlich war er der Welt geworden.
Wir haben kein Bild von ihm, kein Bild seines äußern Wesens und kaum
eines seines Innern als die Spiegelschrift seines Werkes, seiner expansiven
Briefe. Ein einziges Bild freilich gab es des Bildnislosen, ein wundervolles,
das die wenigen erschütterte, die es gelesen, ein Bekenntnis im Geiste
Rousseaus, eine »Geschichte meiner Seele«, die er kurz vor seinem Tode
verfaßt hat. Aber wir kennen sie nicht, er hat das Manuskript verbrannt, oder
die gleichgültigen Hüter seines Nachlasses haben es sorglos vertan so wie
seinen Roman und manches andere Werk. So stürzt sein Antlitz ins Dunkel
zurück, in dem es vierunddreißig Jahre geschattet. Wir haben kein Bild von
ihm; wir kennen nur seinen finsteren Begleiter: den Dämon.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199