Page - 108 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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die Pathologia sexualis nennt, wird in seinem Werke bildhaft in fast
klinischen Bildern: Männlichkeit übertreibt er zur Männischkeit, zu Sadismus
beinahe (Achill und Wetter vom Strahl), Leidenschaft zur Nymphomanie,
Blutschwelgerei und Lustmord (Penthesilea), weibliche Hingabe zu
Masochismus und Hörigkeit (Käthchen von Heilbronn); dazu mengt er noch
all die dunklen Mächte der Seele, wie Hypnotik, Somnambulismus,
Wahrsagerei. Alles, was in der Naturgeschichte des Herzens auf dem
äußersten Blatte verzeichnet ist, das Exzentrische des Gefühls, das
Herausgebogensein des Menschen über seinen letzten Rand, dies und gerade
dies lockt ihn zu dichterischem Gebilde. Immer waltet dieser Charakter
wüster, sinnlich überhitzter Träume in seinem Werke vor: er wußte die
Kakodämonen, die glühenden Mächte seines Blutes, nicht anders zu
beschwören, als daß er sie mit der Peitsche der Leidenschaft hineintrieb in
seine Gestalten. Kunst ist für ihn Exorzismus, Austreibung der bösen Geister
aus dem gefolterten Leib ins Imaginäre. Sein Eros lebt sich nicht aus, sondern
träumt sich bloß aus: daher diese Verzerrungen ins Gigantische und
Gefährliche, die Goethe erschreckt und manchen Unbelehrten abgestoßen
haben.
Aber nichts Fehlerhafteres, als darum in Kleist einen Erotiker zu sehen (der
Eros deutet bloß immer sinnlicher als die nur geistigen Leidenschaften den
Habitus jeder Natur). Zum Erotiker – im Sinne des Genießers, des
Wollüstigen – fehlt ihm vollkommen das Moment der Lustbetonung. Kleist ist
das Gegenteil eines Genießers, er ist der Erleider, der Gequälte seiner
Leidenschaft, der Nichtverwirklicher, der Nichterfüller seiner heißen Träume:
daher das Gestaute, Gepreßte, ewig Rückfließende und Aufkochende seiner
Gelüste. Auch hier erscheint er wie überall als der Getriebene, als der Gejagte
eines Dämons, ewig im Kampf mit seinen Zwängen und Drängen, entsetzlich
leidend unter dieser Zwanghaftigkeit seiner Natur. Aber der Eros ist nur einer
in der schäumenden Koppel, die ihn quer durch das Leben hetzt: seine andern
Leidenschaftlichkeiten sind nicht minder gefährlich und blutgierig, denn jede
treibt er ja – als der furchtbarste Übertreiber, den die neue Literatur kennt –
bis in den Exzeß, jede Not der Seele, jedes Gefühl fiebert er ins Manische, ins
Klinische, ins Selbstmörderische hinein. Ein Pandämonium der Leidenschaft
tut sich auf, wo immer der Blick an ein Werk, an eine Wesensäußerung
Kleistens tastet. Er war voll Haß, voll Ressentiment, ja voll gepreßter
aggressiver Gereiztheit; und wie furchtbar diese enttäuschte Machtgier in ihm
wühlte, spürt man, wo das Raubtier sich von der niederdrückenden Faust
befreit und die Gewaltigsten, einen Goethe oder Napoleon, anspringt: »Ich
will ihm den Kranz von der Stirne reißen«, das ist noch das mildeste Wort
seines Hasses gegen den, zu dem er vordem »auf den Knien seines Herzens«
gesprochen. Eine andere Bestie aus der fürchterlichen Meute der
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199