Page - 112 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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und bleibt er unmündig, er stehe nun als Kind unter der Vormundschaft seiner
Eltern oder als Mann unter Vormundschaft des Schicksals« – so philosophiert
der Einundzwanzigjährige und meint des Fatums zu spotten. Noch weiß er
nicht, daß sein Schicksal innen ist und zugleich jenseits seiner Macht.
Aber gewaltsam stößt er sich in das Leben ab. Er zieht den Soldatenrock
aus – »Der Soldatenstand«, schreibt er, »wurde mir so verhaßt, daß es mir
nach und nach lästig wurde, zu seinem Zwecke mitwirken zu müssen.« Aber
wie nun, einer Zucht entronnen, sich selbst eine andere finden? Ich sagte
schon, Kleist müßte kein Preuße sein, wenn sein erster Gedanke nicht
Ordnung gewesen wäre. Nun: und er müßte kein Deutscher sein, wenn er für
diese innere Ordnung nicht alles von der Bildung erhoffte. Bildung, das ist
das Arkanum des Lebens für ihn wie für jeden Deutschen; lernen, viel
aus Büchern lernen, in Vorlesungen sitzen, Kollegbücher schreiben, den
Professoren lauschen – so malt sich dem Jugendlichen der Weg in die Welt.
Mit Maximen und Theorien, mit Philosophie und Naturkunde und
Mathematik und Literaturgeschichte hofft Kleist den Weltgeist zu fassen, den
Dämon in sich zu bannen. Und so wirft sich der ewige Übertreiber wie ein
Rasender in das Studium hinein. Alles, was er tut, was er anfaßt, durchglüht
er mit seinem dämonischen Willen: er berauscht sich geradezu an der
Nüchternheit und macht aus dem Pedantismus eine Orgie. Wie seinem
deutschen geistigen Ahn, wie dem Doktor Faust, ist ihm die weitausholende,
schritthafte Linie zu den Wissenschaften zu langsam: mit einem Sprung will
er alles erraffen und aus dem Wissen endlich das Leben selbst, die »wahre«
Form des Lebens erkennen. Denn er glaubt ja, verführt von den Schriften der
Aufklärungszeit, mit der ganzen Fanatik seines Triebwillens an die
Erlernbarkeit der »Tugend« im Sinne der Griechen, an eine Lebensformel,
durch die man sich Wissen und Bildung errechnen könne, um sie dann wie ein
Schema, wie eine Logarithmentafel von Fall zu Fall zu exemplifizieren.
Darum lernt er wie ein Verzweifelter, bald Logik, bald reine Mathematik, bald
Experimentalphysik, dann wieder Lateinisch und Griechisch, und all das »mit
einem mühsamsten Fleiße«. Man spürt deutlich, daß er die Zähne
zusammenpressen muß, um durchzuhalten: »Ich habe mir ein Ziel gesetzt, das
die ununterbrochene Anstrengung aller meiner Kräfte und die Anwendung
jeder Minute Zeit erfordert, wenn es erreicht werden soll«, aber dies »Ziel«
will sich immer und immer noch nicht zeigen. Er lernt ins Leere, und je mehr
er an einzelnen Kenntnissen hastig zusammenballt, um so weniger erkennt er
das innere Ziel. – »Mir ist keine Wissenschaft lieber als die andere – soll ich
immer von einer Wissenschaft zur anderen gehen, und immer nur auf ihrer
Oberfläche schwimmen und bei keiner in die Tiefe gehen?« Vergebens
predigt er, nur um sich selber von der Nützlichkeit seines Tuns zu überzeugen,
seiner Braut in pedantischer Weise eine pedantische Mechanik des sittlichen
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199