Page - 113 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Verhaltens, monatelang quält er das arme Mädchen wie der versessenste
Schulmeister mit läppischen vernünftlerischen Fragen und Antworten, die er
ihr säuberlich, um sie »auszubilden«, aufschreibt: nie war Kleist
antipathischer, unmenschlicher, schulfuchshafter, verpreußter als in jener
unglückseligen Epoche, wo er den Menschen in sich mit Büchern und
Kollegien und Präzepten sucht, nie sich selber, seinem glühenden Wesenskern
fremder, als da er sich zum Bürger, zum nützlichen Menschen zu ertüchtigen
strebt.
Aber er soll dem Dämon nicht entrinnen, indem er Bücher und Pandekten
über ihn stülpt: aus den Büchern schlägt die furchtbare Flamme ihm eines
Tages schreckhaft entgegen. Plötzlich, in einer Stunde, in einer Nacht ist
Kleistens erster Lebensplan vernichtet. Er hat Kant gelesen, den Urfeind aller
deutschen Dichter, ihren Verführer und Zerstörer, und dies kalte überklare
Licht blendet ihm den Blick. Entsetzt muß er seine höchste Überzeugung, den
Glauben an die Heilkraft der Bildung, an die Erkennbarkeit der Wahrheit
bankerott erklären: »Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit
nennen, wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint.« Die »Spitze
dieses Gedankens« durchbohrt ihn »im heiligsten Innern« seines Herzens, und
erschüttert ruft er in einem Briefe aus: »Mein einziges, mein höchstes Ziel ist
gesunken, und ich habe nun keines mehr.« Der Lebensplan ist vernichtet,
Kleist wieder allein mit sich selbst, mit diesem furchtbaren lastenden
geheimnisvollen Ich, das er nicht zu bändigen weiß. Gerade, daß er – wie
immer – als der maßlos Leidenschaftliche sein ganzes Sein, seine
unumschränkte geistige Existenz auf eine Karte setzt, macht diese seine
seelischen Niederbrüche so furchtbar und gefährlich. Wenn Kleist seinen
Glauben verliert oder seine Leidenschaft, verliert er immer alles: denn dies ist
seine Tragik und seine Größe, sich immer ganz und restlos in ein Gefühl
hineinzutreiben und niemals den Weg zurückzufinden, sich nie anders also
befreien zu können als durch Explosion und Zerstörung.
So wird er auch diesmal durch Zernichtung frei. Er zerschellt den Becher,
aus dem er sich durch Jahre selig berauscht, klirrend und mit einem Fluch an
der Wand des Schicksals. Die »traurige« Vernunft, so nennt er die fortab, die
bisher sein Idol gewesen, er flieht die Bücher, die Philosophie, die Theoreme
– und flieht, als der ewige Übertreiber, wieder zu weit hinüber bis an das
andere Ende. »Mir ekelt vor allem, was Wissen heißt«: mit einem Ruck wirft
er sich herum in das Gegenteil, reißt seinen Glauben aus sich wie einen
weggelebten Tag aus dem Kalender, und der gestern noch in Bildung die
Rettung, im Wissen die Magie, in der Kultur das Heil, im Studium die
Wehrkraft gesehen, schwärmt nun für Dumpfheit, die Unbewußtheit, für das
Primitive, für das Tierhaft-Vegetative. Sofort – Kleistens Leidenschaft kennt
nicht das Wort Geduld – ist ein neuer Lebensplan gezimmert, gleich schwach
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199