Page - 116 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Trunkenheit. Alles, auch das Schaffen, verwandelt sich ihm zur Orgie; Lust-
und Qualschreie brechen aus seinen Briefen stöhnend oder schwelgend
hervor. Was andere Dichter ermutigt und bekräftigt, die Ermunterung durch
Freundeswort, läßt ihn taumeln in Angst und Lust, so furchtbar ist sein ganzes
Sein erregt von der Alternative des Gelingens oder Versagens. Was andern
Glück ist, wird ihm (hier wie immer) Gefahr, denn bis an den letzten
Lebensnerv drängt er die große Entscheidung. »Der Anfang meines
Gedichtes, das der Welt Deine Liebe zu mir erklären soll«, schreibt er seiner
Schwester, »erregt die Bewunderung aller Menschen, denen ich es mitteile. O
Jesus! Wenn ich es doch vollenden könnte! Diesen einzigen Wunsch soll mir
der Himmel erfüllen, und dann, mag er tun, was er will.« Auf diese einzige
Karte Guiskard setzt er sein ganzes Leben. Eingegraben auf seiner Insel im
Thuner See in die Arbeit, ganz hinabgetaucht in den eigenen Abgrund, kämpft
er den Jakobskampf mit dem Engel, mit dem Dämon, daß er ihn freilasse.
Manchmal jauchzt er auf in frenetischer Verzückung. »In kurzem werde ich
Dir viel Frohes zu schreiben haben; denn ich nähere mich allem Erdenglück«;
dann wieder erkennt er, was für finstere Mächte er aus sich beschworen hat:
»Ach, der unselige Ehrgeiz, er ist ein Gift für alle Freuden.« In Sekunden der
Zernichtung möchte er sterben – »Ich bitte Gott um den Tod«, dann wieder
überfällt ihn die Angst, er »möchte sterben, ehe ich meine Arbeit vollendet
habe«. Nie hat vielleicht ein Dichter erbitterter, mit einem rasenderen Einsatz
seiner ganzen Existenz um sein Werk gerungen als Kleist in jenen Wochen
der Ureinsamkeit auf der kleinen Insel im Thuner See. Denn dieser Guiskard
ist mehr als bloß literarischer Spiegelschein inneren Wesens: hier in dieser
titanischen Gestalt will er die ganze Tragödie seiner Existenz darstellen, das
ungeheure Wollen des männlichen Geistes, indes der Körper geheim
unterwühlt ist von Schwächen und Schwären. Vollenden bedeutet hier:
genesen, Sieg eine Erlösung, der Ehrgeiz die Selbsterhaltung: darum dieser
ungeheure Krampf, diese gleichsam zu Muskeln straff gespannten Nerven. Es
ist Ringen um eine Lebensentscheidung, das spürt er und die Freunde mit
ihm, die ihm raten: »Sie müssen den Guiskard vollenden und wenn der ganze
Kaukasus und Atlas auf Sie drückte.« Nie wieder hat sich Kleist so tief in ein
Werk hineingeworfen, einmal, zweimal, dreimal schreibt er die Tragödie
hintereinander, um sie wieder zu zerstören, er weiß jedes Wort darin so
auswendig, daß er bei Wieland sie frei aus dem Gedächtnis rezitieren kann.
Monatelang wälzt er den überwuchtigen Stein zur Höhe, immer rollt er
wieder die Tiefe hinab: ihm ist es nicht gegeben wie Goethe im Werther, im
Clavigo, mit einem Ruck sich von seinem Seelengespenst zu entlasten, zu fest
ist der Dämon in seine Seele verklammt. Endlich sinkt ihm zerbrochen die
Hand: »Der Himmel weiß, meine teuerste Ulrike (und ich will umkommen,
wenn es nicht wörtlich wahr ist)«, stöhnt der Ermattete auf, »wie gern ich
einen Blutstropfen aus meinem Herzen für jeden Buchstaben eines Briefes
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199