Page - 117 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Image of the Page - 117 -
Text of the Page - 117 -
gäbe, der so anfangen könnte: mein Gedicht ist fertig. Aber, Du weißt, wer,
nach dem Sprüchwort, mehr tut, als er kann. Ich habe nun ein Halbtausend
hintereinander folgender Tage, die Nächte der meisten mit eingerechnet, an
den Versuch gesetzt, zu so vielen Kränzen noch einen auf unsere Familie
herabzuringen: jetzt ruft mir unsere heilige Schutzgöttin zu, daß es genug
sei … Töricht wäre es wenigstens, wenn ich meine Kräfte länger an ein Werk
setzen wollte, das, wie ich mich endlich überzeugen muß, für mich zu schwer
ist. Ich trete vor einem zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich, ein
Jahrtausend im voraus, vor seinem Geiste.«
Eine Sekunde scheint es, als wollte Kleist sich beugen vor dem Geschick,
als hätte sein leuchtender Geist Macht über sein rasendes Gefühl. Aber in ihm
waltet noch finster der Dämon des Unmaßes: er kann die heldenhafte Haltung
des großen Verzichtes nicht durchhalten, sein Ehrgeiz, einmal aufgepeitscht,
läßt sich nicht wieder zurückzäumen. Vergebens suchen die Freunde seine
dumpfe Verzweiflung aufzurütteln, vergebens raten sie ihm zu einer Reise in
hellere Landschaft: was als erheiternder Ausflug gedacht war, wird zu
sinnloser Flucht von Ort zu Ort, von Land zu Land. Flucht vor den
fürchterlichsten Gedanken. Das Mißlingen des Guiskard ist der Dolchstoß für
Kleistens rasenden Stolz, und in jäher Umschaltung ersetzt jetzt den
herrischen, himmelstürmenden Hochmut das alte nagende
Minderwertigkeitsgefühl. Noch einmal wiederholt sich der entsetzliche
Angstgedanke seiner Jugend, die Angst vor der Impotenz, vor dem Nicht-
Können, nun aber gegen die Kunst gewandt. Wie damals als Mann, fürchtet er
jetzt, sich als Dichter nie mehr ganz bewähren zu können, und (wie damals)
die Schwäche gewaltsam übertreibend, stöhnt er schäumend auf: »Die Hölle
gab mir meine halben Talente, der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes
oder gar keins.« Kleist, der Maßlose, aber kennt nur das Alles oder das
Nichts, Unsterblichkeit oder Untergang.
So wirft er sich ins Nichts, so geschieht die wahnsinnige Tat, eine Art
ersten Selbstmordes (schwerer vollbracht als später sein Freitod): in Paris,
fiebernd angelangt von sinnloser Fahrt, verbrennt er den »Guiskard« und
seine andern Entwürfe, um sich vor ihrem herrischen Begehren nach
Unsterblichkeit zu retten. Nun ist der Lebensplan zerstört: immer in solchen
Augenblicken taucht, magisch aufgerufen, sein Gegenspieler auf: der
Todesplan. Und befreit von dem Dämon des Ehrgeizes, schreibt er jenen
unsterblichen Brief, den schönsten vielleicht, den ein Künstler im Augenblick
des Mißlingens gestaltet: »Meine teure Ulrike! Was ich Dir schreiben werde,
kann Dir vielleicht das Leben kosten; aber ich muß, ich muß, ich muß es
vollbringen. Ich habe in Paris mein Werk, soweit es fertig war, durchgelesen,
verworfen und verbrannt: und nun ist es aus. Der Himmel versagt mir den
Ruhm, das größte der Güter der Erde; ich werfe ihm, wie ein eigensinniges
117
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199