Page - 121 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Image of the Page - 121 -
Text of the Page - 121 -
betrachtsames, planhaftes Nach-außen-Stellen, sondern nur Wegschleudern,
ein tollwütiges Losringen aus äußerster, fast tödlich geengter innerer Not.
Jeder Mensch in seinem Werke empfindet (wie er selbst) das ihm auferlegte
Problem als einzig weltwesentlich, jeder ist bis zur Narrheit erfüllt von
seinem Gefühl: jedem geht es in jedem Falle um das Ganze, um das Ja und
Nein der ganzen Existenz. Alles wird Kleist in sich (und darum in seinen
Menschen) zur Schneide, zur Krise: die Not des Vaterlandes, die andere nur
zu einer wortreichen Pathetik aufschwellte, die Philosophie (die Goethe nur
kontemplativ-skeptisch verfolgte, gerade so viel aufnehmend, als seinem
geistigen Wachstum förderlich war), der Eros und das Leiden Psyches, alles
das wird Fieber und Manie, ein Urleiden, das den ganzen Menschen zu
zerstören droht. Das nun macht Kleistens Leben so dramatisch, seine
Probleme so tragisch, daß sie nicht wie jene Schillers poetische Fiktionen
bleiben, sondern grausame Realitäten seines Gefühles werden: darum die
wahrhaft tragische Atmosphäre in seinem Werk, die kein anderer deutscher
Dichter ähnlich dargestellt hat. Die Welt, das ganze Leben ist bei Kleist in
einen Spannungszustand verwandelt: die Unfähigkeit, irgend etwas
leichtzunehmen, die Strenge der Auffassung muß jeden seiner Menschen,
Kohlhaas wie Homburg und Achill, notwendig in einen Konflikt mit seinen
Gegenspielern führen, und da diese Widerstände (wie seine eigenen)
gleichfalls ins Gewaltige gesteigert und übersteigert sind, entsteht mit
Urnotwendigkeit, nicht zufällig, sondern schicksalhaft, dramatisches Dasein,
tragische Sphäre.
Naturhaft, zwanghaft kommt Kleist also zur Tragödie: nur sie konnte die
schmerzhafte Gegensätzlichkeit seiner Natur verwirklichen (indes die Epik
konziliantere, lässigere Formen frei läßt, fordert das Drama äußerste
Zuspitzung und war darum seinem übertreiberischen, extravaganten
Charakter einzig willkommen). Goethe hat ein wenig ironisch von dem
»unsichtbaren Theater« gesprochen, für das jene Stücke bestimmt seien: dies
unsichtbare Theater war für Kleist die dämonische Natur der Welt, die aus
gewaltsamer Entzweiung, aus dem Diametralen des Gegensatzes solche
Spannung und Bewegung schafft, daß sie freilich ein Schaugerüst
zersprengen und überströmen mußte. Keiner war und wollte weniger
Praktiker sein als Kleist: er wollte sich entladen und entlasten, alles Spielhafte
und Zweckhafte widerspricht der leidenschaftlichen Unruhe seines
Charakters. Seine Konzeptionen haben etwas durchaus Zufallhaftes und
Lässiges, seine Bindungen sind locker, alles Technische al fresco
hingezeichnet (von eiliger und ungeduldiger Hand): wo sein Griff nicht genial
ist, tappt er daneben ins Theatralische, selbst ins Melodramatische, er verfällt
stellenweise ins Niederste der Vorstadtkomödie, des Ritterschauspiels, des
Zaubertheaters, um mit einem Sprung, mit einem Riß wieder (ähnlich wie
121
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199