Page - 126 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Butzenscheibenhafte zurücktreten müßte, um ins Volkhafte zu Gretchen und
Luise hinüberzugehen, hat einen kranken Zug in der Seele, ein Übermaß der
Hingabe, das der gemeine Sinn nicht versteht, so wie Hermann wieder, der
Nationalheld, einen Schuß zuviel Politik und heuchlerische Geschicklichkeit,
zuviel Talleyrand hat, um vaterländische Paradefigur zu werden. Immer ist
jedem Banal-Idealischen schon vorweg im Blute ein gefährlicher Tropfen
beigemischt, der sie volksfremd macht: dem preußischen Offizier Homburg
die (herrlich wahre, aber dem Nimbus unerträgliche) Furcht vor dem Tode,
der griechischen Penthesilea die bacchische Gier, dem Wetter vom Strahl ein
männisches Reitpeitschentum, Thusnelda ein Gran Dummheit und
putzweiberischer Eitelkeit. Alle rettet sie Kleist vor dem Tenorhaften, vor
dem Schillerischen, vor dem Farbdruckklischee durch irgendein
Urmenschliches in ihrem Wesen, das im Affekt nackt, schamlos nackt unter
dem dramatischen Faltenwurf herauskommt. Jeder hat irgendwelches
Sonderliches, Unerwartetes, etwas Unharmonisches, etwas Untypisches im
seelischen Gesicht, jeder (außer dem nur theatralisch hingestellten
Theaterbuffon, der Kunigunde und den Soldaten) wie bei Shakespeare einen
scharfen Zug in der Physiognomie: so wie Kleist als Dramatiker
antitheatralisch ist, so ist er als Menschenbildner unbewußt antiidealisch.
Denn alle Idealisierung geschieht immer entweder durch bewußte Retusche
oder durch ein zu oberflächliches, ein kurzsichtiges Sehen. Kleist aber sieht
immer klar und haßt nichts so sehr als das kleine Gefühl. Er ist eher
geschmacklos als banal, eher stockig und übertreiberisch als süßlich. Rührung
ist ihm, dem Herben und Geprüften, dem Wissenden um wirkliches Leiden,
ein widerwärtiges Element, also wird er bewußt antisentimentalisch und
verschließt gerade in jenem Augenblicke, wo die banale Romantik beginnt,
vor allem in den Liebesszenen, seinen Menschen keusch den Mund, einzig
ihnen Erröten gewährend, ergriffenes Stammeln, den Seufzer oder das letzte
Schweigen. Er verbietet seinen Helden, sich gemein zu machen: darum sind
sie – seien wir offen – dem deutschen Volk und jedem andern nur literarisch
vertraut und nicht längst von der Bühne herab ins Wesen spruchhaft, bildhaft
eingegangen. Sie können als national nur im Sinne einer erträumten deutschen
Nation gelten, ebenso wie theatralisch nur als Figuren jenes »Imaginären
Theaters«, von dem Kleist zu Goethe sprach. Sie passen sich nicht an, sie
haben alle Eigenwilligkeit und Inkonzilianz ihres Schöpfers und jeder darum
um sich eine Handbreit Einsamkeit. Seine Dramen bleiben von vorne und
rückwärts mit der Literatur von Ahnen und Enkeln unverbunden, sie erbten
keinen Stil und haben keinen gezeugt. Kleist war ein Einzelfall, und ein
Einzelfall ist seine Welt geblieben.
Ein Einzelfall: denn sie ist weder die Epoche von 1790 bis 1807, noch
begrenzt durch Gemarkung Brandenburgs oder Deutschlands; sie ist geistig
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199