Page - 127 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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nicht durchflogen von dem Atem der Klassik, noch durchdunkelt von der
katholischen Dämmerung der Romantik. Kleistens Welt ist so sonderbar und
zeitlos wie er selbst, eine saturnische Sphäre, weggewendet vom Tageslicht
und der klaren Erscheinung. So wie der Mensch interessiert Kleisten die
Natur, die Welt erst dort an ihrer äußersten Grenze, wo sie über sich selbst
hinaustritt ins Unerhörte und Unwahrscheinliche, ja, ich möchte fast sagen,
wo sie übermäßig, wo sie lasterhaft wird und die Norm verläßt. Genau wie in
der Menschheit beschäftigt ihn bei den Geschehnissen nur das Anormale, die
Abweichung von der Regel (die Marquise von O.; das Bettelweib von
Locarno; das Erdbeben in Chili), immer also der Augenblick, wo sie den
vorgezogenen Kreisen Gottes auszubrechen scheint. Nicht umsonst hat er
Schubarts »Nachtseite der Natur« so leidenschaftlich gelesen: alle die
Zwielichtsphänomene des Somnambulismus, der Nachtwandlerei, der
Suggestion, des tierischen Magnetismus sind willkommener Stoff für seine
übertreiberische Phantasie, die – nicht genug an den Menschenleidenschaften
– nun die geheimen Kräfte des Kosmos herantreibt, daß sie seine Geschöpfe
noch mehr verstricken: Verwirrung der Tatsachen zur Verwirrung des
Gefühls! Im Sonderbaren ist immer Kleistens liebste Hausung: dort spürt er
irgendwo nah in Schatten und Geklüft den Dämon, dem er überall magisch
angelockt entgegenstrebt; auch im Weltwesen sucht er, wie sonst im Gefühl,
den Superlativ.
Durch dieses Abbiegen vom Offenbaren scheint Kleist für den ersten Blick
seinen Zeitgenossen, den Romantikern, verwandt, aber zwischen jenen
Dichtern teils gewollter, teils naiver Abergläubigkeit und Märchenseligkeit
und seiner zwanghaften Liebe zum Phantastischen und Abstrusen klafft ein
ganzer Abgrund des Gefühls: die Romantiker suchen das »Wunderbare« als
eine Frommheit, Kleist das »Sonderbare« als eine Krankheit der Natur. Ein
Novalis will glauben und schwelgen in dieser Gläubigkeit, ein Eichendorff
und Tieck die Härte und Widersinnigkeit des Lebens auflösen in Spiel und
Musik – Kleist aber, der Gierige, will das Geheimnis hinter den Dingen
fassen, er bringt bis in das letzte Dunkel des Wunderbaren seinen
forschenden, kalt-leidenschaftlichen, unerbittlich sondierenden Blick. Je
sonderbarer das Geschehnis, um so sachlicher reizt es ihn, davon zu
berichten, ja er setzt geradezu eine Bravour darein, das Unfaßliche in
nüchterner Relation zu verdeutlichen, und so gräbt sich sein leidenschaftlicher
Intellekt zäh wie eine Schraube Windung um Windung bis hinab in die
unterste Sphäre, wo das Magische der Natur und das Dämonische des
Menschen geheimnisvolle Brautschaft feiern. Hier kommt er Dostojewski
näher als jemals ein Deutscher: auch Kleistens Gestalten sind geladen von
allen kranken und übersteigerten Kräften der Nerven, und diese Nerven
wiederum irgendwo schmerzhaft verhakt in das Dämonische der Weltnatur.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199