Page - 131 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Leidenschaft am Verwirren und Verschrauben, das Gewaltsame der
Verdichtung, seine Spiellust mit dem Geheimnis macht sie mehr aufregend als
plastisch, durch nichts hitzen sie so sehr als durch ihre Scheinkühle, so daß
»Die Marquise von O.« (eine achtzeilige Anekdote Montaignes) als
spannende Scharade, das »Bettelweib von Locarno« wie ein schauriger Alp
wirken. Gleichsam der Revers seines Wesens wird sichtbar, eine Exaltation
des Nichtexaltiertseins, ein Übermaß des Maßhaltens. Auch Stendhal hatte ja
zur kalten, nichtbildernden, antisentimentalischen Prosa tendiert und täglich
das Bürgerliche Gesetzbuch gelesen, so wie Kleist den Ton der Chroniken
sich zum Vorbild nimmt: während er aber bloß zu einer Technik kommt, gerät
Kleist, der Triebhafte, in eine Passion des Nichtpassioniertseins, das Übermaß
der Spannung ist nun aus ihm selbst in den Leser übergeschaltet. Aber immer
spürt man das Zuviel, das unweigerlich von seinem Wesen ausgeht: darum ist
von seinen Novellen die stärkste diejenige, die das Motiv seines Wesens in
Gestaltung verwandelt, »Michael Kohlhaas«, der herrlichste, sinnvollste
Typus des Übertreibers, den Kleist geschaffen, der Mann, der seine stärksten
Kräfte durch Übersteigerung zur Zerstörung treibt, Gradsinn zu Starrsinn,
Rechtlichkeit zu Rechthaberei; unbewußt ist er Sinnbild seines Gestalters, der
aus seinem Besten das Gefährlichste schuf und aus dem Fanatismus des
Willens über Weg und Ziel hinausdrängt. Auch in der Zucht, in der
Verhaltung ist Kleist ebenso dämonisch übermäßig wie in der Schwelgerei,
wie im Entströmen.
Am vollendetsten erscheint diese Mischung, ich sagte es schon, im
Absichtslosen, in jenen kleinen Anekdoten, die er gleichsam jenseits der
Kunstabsicht schrieb, und dann in jener großartigsten Darstellung eines
sonderbaren Menschen: in seinen Briefen. Nie hat sich ein deutscher Dichter
ähnlich aufgetan der Welt gestellt, als Kleist in der Handvoll Briefe, die von
ihm erhalten sind. Sie scheinen mir unvergleichbar mit den psychologischen
Dokumenten Goethes und Schillers, weil Kleistens Wahrhaftigkeit unendlich
kühner, hemmungsloser, abgründiger und unbedingter ist als die unbewußten
Stilisierungen, die immer ästhetisch gebundenen Bekenntnisse der Klassiker.
Kleist exzediert seiner ganzen Natur gemäß auch im Bekenntnis, er gibt der
grausamsten Selbstzerfleischung noch einen geheimnisvollen Lustton, er hat
nicht nur Liebe, sondern eine Art Brünstigkeit zur Wahrheit und eine herrliche
Ekstatik immer im allertiefsten Schmerz. Nichts Schneidenderes als die
Schreie dieses Herzens, und doch scheinen sie aus einer unendlichen Höhe zu
kommen wie der zuckende Ton eines getroffenen Raubvogels, nichts
Großartigeres als das heroische Pathos seiner klagenden Einsamkeit. Man
meint die Qual des vergifteten Philoktet zu hören, der abseits von den
Brüdern, einsam auf der Insel seines Geistes mit den Göttern hadert; und wie
er sich in der Qual der Selbsterkenntnis die Kleider vom Leibe reißt, steht er
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199