Page - 135 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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sich der Zwanzigjährige das Herz zerquält, die ihn als »Lebensplan« fast
erstickte – jetzt formuliert sie dem Kurfürsten die Worte und steigert die bloß
monarchische Gestalt ins Geistige. Die Kadettenjahre, die militärische
Erziehung, tausendmal verflucht – nun ersteht sie in dem prachtvollen Fresko
der Armee, diesem Hymnus auf die Solidarität der Gemeinschaft. All dem er
sich entrungen, die Tradition, die Zucht, die Zeit, nun steht es wie ein Himmel
über seinem Werk, zum erstenmal schafft er aus einer innern Heimat, aus der
Blutbestimmtheit seines Wesens. Zum erstenmal ist die Luft entschwült, die
Spannungen nicht mehr quälend und nervenvibrierend, zum erstenmal rollen
die Verse klar, zwängen und drängen sich nicht, zum erstenmal ertönt Musik.
Die Geisterwelt, sonst dämonischer Aufschwall der Tiefe, schwebt nur wie
eine Dämmerung über dem irdischen Spiel, ein Klang von der Süße der
letzten Shakespeareschen Dramen, jenes heiteren Erkennens und Erlösens,
senkt den Vorhang über eine harmonische Welt.
Der »Prinz von Homburg« ist Kleistens wahrstes Drama, weil es sein
ganzes Leben enthält. Alle Überkreuzungen und Überschneidungen seines
Wesens sind darin, die Lebensliebe und die Todesnot, die Zucht und der
Überschwang, das Ererbte und das Erlernte: nur hier, wo er sich ganz
erschöpft, wird er ganz wahr über sein eigenes Wissen hinaus. Darum auch
dieser geheimnisvoll prophetische Klang in der Sterbeszene, der Rausch des
Freitodes, die Angst vor dem Schicksal – vorausgedichtete Stunden seines
Todes und gleichzeitig Zurückleben des ganzen früheren Lebens. Nur
Todgeweihte haben dieses höchste Wissen, diesen Doppelblick ins
Vergangene und Zukünftige, nur der »Homburg« und der »Empedokles« von
allen deutschen Dramen schenken uns diese geisterhafte Musik, die schon
selbst wie ein Überklang ins Unendliche ist. Denn nur letzte Not vermag die
Seele ganz aufzuschmelzen, nur die reinste Resignation die Sphäre zu
erreichen, wo die Leidenschaft sich längst ermüdet; was es dem Gierigen und
seinem zornigen Ansprang beharrlich versagte, schenkt Kleisten das
Schicksal gerade in jener Stunde, da er nichts mehr erhofft: die Vollendung.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199