Page - 146 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Image of the Page - 146 -
Text of the Page - 146 -
Denn gerade in ihren größten Augenblicken hat die Tragödie Friedrich
Nietzsches in der deutschen Welt keinen Zuschauer, keinen Zuhörer, keinen
Zeugen mehr. Anfangs, solange er noch als Professor vom Katheder spricht
und Wagners Lichtkraft ihn sichtbar macht, bei seinen ersten Worten, weckt
seine Rede noch eine kleine Aufmerksamkeit. Aber je tiefer er in sich selbst,
je tiefer er in die Zeit hinabgreift, um so weniger findet er Resonanz. Einer
nach dem andern von den Freunden, von den Fremden steht während seines
heroischen Monologs verschüchtert auf, von den immer wilderen
Verwandlungen, von den immer glühenderen Ekstasen des Einsamen
erschreckt, und läßt ihn auf der Szene seines Schicksals entsetzlich allein.
Allmählich wird der tragische Schauspieler unruhig, so ganz ins Leere zu
sprechen, er redet immer lauter, immer schreihafter, immer gestikulativer, um
sich Widerklang oder wenigstens Widerspruch zu entzünden. Er erfindet sich
zu seinem Wort eine Musik, eine strömende, rauschende, dionysische Musik –
aber niemand hört ihm mehr zu. Er zwingt sich zu Harlekinaden, zu einer
spitzen, schrillen, gewaltsamen Heiterkeit, er läßt seine Sätze Kapriolen
springen und sich in Lazzi überschlagen, nur um mit künstlichem Spaß für
seinen furchtbaren Ernst Hörer heranzuködern – aber niemand rührt zum
Beifall die Hand. Er erfindet sich schließlich einen Tanz, einen Tanz zwischen
Schwertern, und übt verwundet, zerfetzt, blutend seine neue tödliche Kunst
vor den Menschen, aber niemand ahnt den Sinn dieser schreienden Scherze
und die todwunde Leidenschaft in dieser aufgespielten Leichtigkeit. Ohne
Hörer und Widerhall endet vor leeren Bänken das unerhörteste Schauspiel des
Geistes, das unserem stürzenden Jahrhundert geschenkt war. Niemand wendet
nur lässig den Blick, wie der auf stählerner Spitze hinschwirrende Kreisel
seiner Gedanken zum letztenmal herrlich aufspringt und endlich taumelnd zu
Boden fällt: »tot vor Unsterblichkeit«.
Dieses Mit-sich-allein-Sein, dieses Gegen-sich-selbst-allein-Sein ist der
tiefste Sinn, die einzig heilige Not der Lebenstragödie Friedrich Nietzsches:
nie war so ungeheure Fülle des Geistes gegen ein so metallen
undurchdringliches Schweigen gestellt. Nicht einmal die Gnade bedeutender
Gegner ist ihm gegeben – so muß der stärkste Denkwille »in sich selber
eingehöhlt, sich selber angrabend«, aus der eigenen tragischen Seele sich
Antwort und Widerstand holen. Nicht aus der Welt, sondern in blutenden
Fetzen von der eigenen Haut reißt sich der Schicksalsrasende wie Herakles
sein Nessushemd, die brennende Glut, um nackt gegen die letzte Wahrheit,
gegen sich selbst zu stehen. Aber welcher Frost um diese Nacktheit, welches
Schweigen um diesen ungeheuersten Schrei des Geistes, welch entsetzlicher
Himmel voll Wolken und Blitze über dem »Mörder Gottes«, der nun, da keine
Gegner ihn finden und er keinen mehr findet, sich selber anfällt,
»Selbstkenner, Selbsthenker ohne Mitleid«! Von seinem Dämon
146
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199