Page - 150 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Nerven für Tage gewaltsam um. Kein Glas Wein, kein Glas Bier, kein
Alkohol, kein Kaffee vor seinem Platz, keine Zigarre, keine Zigarette nach
der Mahlzeit, nichts, was aufmuntert, erfrischt oder ausruhen macht: nur die
kurze magere Mahlzeit und ein kleines, urbanes, untiefes Gespräch mit leiser
Stimme zum gelegentlichen Nachbar (wie einer spricht, der des Redens seit
Jahren entwöhnt ist und sich fürchtet, zuviel gefragt zu werden).
Und wieder hinauf in das schmale, enge, dürftige, kalt möblierte Chambre
garnie, der Tisch vollgehäuft mit unzähligen Blättern, Notizen, Schriften und
Korrekturen, aber keine Blume, kein Schmuck, kaum ein Buch und selten ein
Brief. Rückwärts in der Ecke ein schwerer klotziger Holzkoffer, seine einzige
Habe, mit den zwei Hemden und dem zweiten vertragenen Anzug. Sonst nur
Bücher und Manuskripte, auf einem Tablett unzählige Flaschen und
Fläschchen und Tinkturen: gegen die Kopfschmerzen, die ihn oft für Stunden
sinnlos machen, gegen die Magenkrämpfe, gegen das spasmische Erbrechen,
gegen die Trägheit der Eingeweide und vor allem die fürchterlichen Mittel
gegen die Schlaflosigkeit, Chloral und Veronal. Ein entsetzliches Arsenal von
Giften und Drogen, und doch die einzigen Helfer in dieser leeren Stille des
fremden Raums, in dem er niemals anders ruht als in kurzem, künstlich
erzwungenem Schlaf. In den Mantel verpackt, mit einem Wollschal umhüllt
(denn der elende Ofen raucht bloß und wärmt nicht), mit frierenden Fingern,
die doppelte Brille hart ans Papier gedrückt, schreibt die hastende Hand
stundenlang Worte, die das trübe Auge dann kaum selbst entziffern kann.
Stundenlang sitzt er so und schreibt, bis die Augen brennen und tränen: es
sind die seltenen Glücksfälle seines Lebens, wenn sich irgendein Helfer seiner
erbarmt und ihm seine Schreibhand borgt für eine Stunde oder zwei. Bei
schönem Wetter geht der Einsame aus, immer allein, immer mit seinen
Gedanken: nie ein Gruß unterwegs, nie ein Gefährte, nie eine Begegnung.
Dunkles Wetter, das er haßt, Regen und Schnee, der seinen Augen weh tut,
halten ihn unbarmherzig im Gefängnis seines Zimmers: nie geht er zu den
andern, zu den Menschen hinab. Nur abends noch ein paar Kekse, eine Tasse
dünnen Tee, und sofort wieder die lange, die unendliche Einsamkeit mit den
Gedanken. Stunden und Stunden wacht er noch bei der zuckenden,
qualmenden Lampe, ohne daß die Nerven, die heißgestrafften, sich lockerten
zu einer sanften Müdigkeit. Dann ein Griff nach dem Chloral, nach
irgendeinem Schlafmittel, und dann endlich, mit Gewalt erzwungen, der
Schlaf der andern, der gedankenfreien, nicht vom Dämon gejagten Menschen.
Manchmal bleibt er tagelang im Bett. Erbrechen und Krämpfe bis zur
Bewußtlosigkeit, sägende Schmerzen in den Schläfen, fast vollkommene
Blindheit. Aber niemand kommt zu ihm, niemand für eine kleine
Handreichung, für einen Umschlag auf die brennende Stirn, niemand, der ihm
vorliest, mit ihm plaudert, mit ihm lacht.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199