Page - 154 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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haben und wirklich aus der »Hundestallexistenz« seines Lebens hin zu
den Menschen gellen. Da plötzlich flammt – und man schrickt auf vor so
ungeheurem Widerspruch – in Ecce homo das starke, stolze, steinerne
Bekenntnis auf, das scheinbar alle diese Schreie Lügen straft: »Als summa
summarum war ich (in den letzten fünfzehn Jahren) gesund.«
Was soll nun gelten? Die tausend Schreie oder das monumentale Wort?
Beides! Nietzsches Körper war organisch stark und widerstandsfähig, der
innere Stamm breit gewölbt und fähig, auch getürmteste Last zu tragen; seine
Wurzeln greifen tief hinab in das Erdreich deutscher, gesunder
Pastorengeschlechter. Im Ganzen »summa summarum«, als Anlage, als
Organismus, im fleischgeistigen Fundament war Nietzsche wirklich gesund.
Nur die Nerven sind zu zart für das Ungestüm seiner Empfindung und darum
in ständiger unruhiger Revolte (einer Revolte, die aber niemals die eherne
Herrschkraft seines Geistes zu erschüttern vermag): Nietzsche selbst hat
einmal sinnlich glücklichsten Ausdruck für diesen halb gefährlichen, halb
gesicherten Zustand gefunden, wenn er von einem »Kleingewehrfeuer« seiner
Leiden spricht. Denn niemals kommt es bei diesem Krieg zu einem
wirklichen Einbruch in den innern Wall seiner Kraft: er lebt wie Gulliver in
Brobdignac, nur ständig umlagert von einem kribbelnden Pygmäengezücht
von Schmerzen. Ewiger Alarm der Nerven ist um ihn, der unablässig auf
Ausguck und Wachtturm steht, ständig in einer aufreibenden, quälenden
Selbstverteidigung der Aufmerksamkeit. Nirgends aber gelingt einer
wirklichen Krankheit (außer vielleicht jener einzigen, die einen Minengang
zwanzig Jahre lang bis unter die Zitadelle seines Geistes vorgräbt und sie
dann plötzlich in die Luft sprengt) ein Einbruch, eine Eroberung: ein
monumentaler Geist wie Nietzsche erliegt keinem Kleingewehrfeuer, nur eine
Explosion kann den Granit solchen Gehirns zerschmettern. So steht einer
ungeheuren Leidensfähigkeit eine ungeheure Leidenskraft entgegen, eine zu
starke Vehemenz des Gefühls einer zu feinen Durchnervtheit des motorischen
Systems. Denn jeder Nerv des Magens wie des Herzens und der Sinne stellt
bei Nietzsche ein überexaktes, filigranzartes Manometer dar, das die kleinsten
Veränderungen und Spannungen mit ungeheurem Ausschlag an schmerzhafter
Erregung erwidert. Nichts bleibt dem Körper (wie dem Geiste) unbewußt. Die
kleinste Fiber, die bei andern stumme, signalisiert ihm sofort mit zuckendem
Riß ihre Botschaft, und diese »rasende Reizbarkeit« zersplittert seine
naturhafte, starke Vitalität in tausend stechende, schneidende, gefährliche
Splitter. Darum dann jene entsetzlichen Schreie, wenn er bei der geringsten
Bewegung, bei jedem plötzlichen Schritt seines Lebens an einen dieser
offenen zuckenden Nerven rührt.
Diese unheimliche, geradezu dämonische Überempfindlichkeit von
Nietzsches Nerven, die schon die flüchtigst verzitternden, für andere tief unter
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199