Page - 155 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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der Schwelle des Bewußtseins dämmernden Nuancen deutlich als Schmerz
auswägen, ist seiner Leiden einzige Wurzel und ebenso Urzelle seiner
genialen Wertungsfähigkeit. Bei ihm muß es gar nichts Substantielles sein,
kein wirklicher Affekt, der das Blut schon zu physiologischer Reaktion
aufzucken läßt – die bloße Luft mit ihren stündlichen Veränderungen
meteorologischer Natur wird schon Ursache unendlicher Peinigungen.
Vielleicht war überhaupt noch niemals ein geistiger Mensch so sehr
atmosphärisch empfindlich, so ganz Manometer, Quecksilber und
Reizbarkeit: zwischen seinem Puls und dem Luftdruck, zwischen seinen
Nerven und dem Feuchtigkeitsgehalt der Sphäre scheinen geheime elektrische
Kontakte zu bestehen. Seine Nerven melden jeden Meter Höhe, jeden Druck
des Wetters sofort als Schmerz in den Organen und reagieren mit
rebellischem Takt auf jede Revolte in der Natur. Regen, verdüsterter Himmel
deprimieren seine Vitalität (»bedeckter Himmel setzt mich tief herab«),
Belastung mit tiefen Wolken spürt er bis hinab in die Gedärme, Regen
»depotenziert«, Feuchtigkeit ermattet, Trockenheit belebt, Sonne erlöst.
Winter ist eine Art Starrkrampf und Tod. Nie steht die zitternde
Barometernadel seiner aprilhaft wetterschwankenden Nerven jemals still: am
ehesten noch in wolkenloser Landschaft, auf den windstillen Hochplateaus
des Engadin. Und so wie vom äußeren Himmel jede Belastung und jeden
Druck, spüren die entzündlichen Organe auch jede Belastung, Trübung und
gewitterliche Befreiung auf dem innern Himmel des Geistes. Denn immer,
wenn ein Gedanke aufzuckt, so schmettert er wie ein Blitz durch die straff
gespannten Stränge seiner Nerven: der Denkakt vollzieht sich bei Nietzsche
dermaßen ekstatisch rauschhaft, dermaßen elektrisch niederzuckend, daß er
immer gewitterhaft auf den Körper wirkt und bei jeder »Explosion des
Gefühls ein Augenblick im strengsten Sinne hinreicht, um die Blutzirkulation
zu verändern«. Körper und Geist sind bei diesem vitalsten aller Denker so
spannungshaft mit dem Atmosphärischen verbunden, daß er die Reaktionen
von innen und außen als eines empfindet: »Ich bin nun einmal nicht Geist und
Körper, sondern etwas Drittes. Ich leide ganz und am Ganzen.«
Gewaltsam herausgezüchtet wird nun diese eingeborene Veranlagung zur
Differenzierung aller Reize durch die unbewegte brütende Luft seines Lebens,
durch Nietzsches jahrzehntelanges Einsiedlertum. Da in den
dreihundertfünfundsechzig Tagen des Jahres nichts Körperliches ihm nahe
kommt als sein eigener Körper, weder Frau noch Freund, da kaum jemand
anderer mit ihm in den vierundzwanzig Stunden des Tages spricht als das
eigene Blut, so führt er gleichsam einen ununterbrochenen Dialog mit seinen
Nerven. Ständig hält er in dieser ungeheuren Stille die Bussole seines
Empfindens in seinen Händen und beobachtet wie alle Einsiedler,
Arbeitsmenschen, Hagestolze und Sonderlinge hypochondrisch auch die
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199