Page - 156 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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kleinsten funktionellen Veränderungen seines Leibes. Andere vergessen sich
selbst, weil ihre Aufmerksamkeit durch Gespräch und Geschäft, durch Spiel
und Lässigkeit abgelenkt wird, weil sie sich durch Wein und Gleichgültigkeit
abdumpfen. Ein Nietzsche aber, ein so genialer Diagnostiker, unterliegt
ständig der Versuchung, als Psychologe an seinem eignen Leiden noch eine
neugierige Lust zu haben, sich zu seinem »eigenen Experiment und
Versuchstier« zu machen. Unablässig legt er mit der spitzen Pinzette – Arzt
und Kranker in einer Person – das Schmerzhafte seiner Nerven bloß und reizt
damit wie alle nervösen und phantasievollen Naturen die schon überstarken
Empfindlichkeiten noch gesteigert empor. Mißtrauisch gegen die Ärzte, wird
er sein eigener Arzt und »beärztelt« sich unablässig sein ganzes Leben lang.
Er versucht alle erdenklichen Mittel und Kuren, elektrische Massagen,
diätetische Vorschriften, Trinkkuren, Bäderkuren, er stumpft bald die
Erregungen mit Brom herab, bald stachelt er sie mit andern Mixturen wieder
hinauf. Seine meteorologische Empfindlichkeit jagt ihn ununterbrochen auf
die Suche nach einer besonderen Atmosphäre, nach einem nur ihm gemäßen
Ort, nach einem »Klima seiner Seele«. Bald ist er in Lugano, um der Seeluft
und Windstille willen, dann in Pfäfers und Sorrent; dann meint er wieder, die
Bäder von Ragaz könnten ihm von seinem schmerzhaften Selbst helfen, die
heilkräftige Zone von St. Moritz, die Quellen von Baden-Baden oder
Marienbad ihn begnaden. Einen Frühling lang ist es das Engadin, das er als
sich wesensverwandt entdeckt mit seiner »stark ozonhaltigen Luft«, dann
muß es wieder eine Südstadt sein, Nizza mit seiner »trockenen« Luft, dann
wieder Venedig oder Genua. Bald strebt er den Wäldern zu, bald den Meeren,
bald den Seen, bald den kleinen heiteren Städten »mit guter leichter Kost«.
Weiß Gott, wie viele Tausende Kilometer Eisenbahn der fugitivus errans
durchfahren hat, nur um diesen märchenhaften Ort zu finden, wo das Brennen
und Ziehen seiner Nerven, dieses ewige Wachsein der Organe aufhörte.
Allmählich destilliert er sich aus seinen Leidenserfahrungen eine eigne Art
Gesundheitsgeographie, er durchforscht dickleibige geologische Werke um
dieses Ortes willen, den er wie Aladins Ring sucht, um endlich die Herrschaft
über seinen Leib und Frieden seiner Seele zu gewinnen. Keine Reise wäre
ihm zu weit: Barcelona ist in seinen Plänen und das Hochgebirge von Mexico.
Argentinien und sogar Japan wird erwogen. Die geographische Lage, die
Diätetik des Klimas und der Kost werden allmählich seine private zweite
Wissenschaft. Bei jedem Ort notiert er sich die Temperatur, den Luftdruck,
mißt mit Hydroskop und Hydrostat die Niederschlagsmenge auf den
Millimeter und den Feuchtigkeitsgehalt. Die gleiche Übertreiblichkeit in der
Diät. Auch da ein ganzes Register, eine medizinische Tabulatur von
Vorsichtigkeiten: der Tee muß eine bestimmte Marke haben und in
bestimmter Stärke dosiert, um ihm bekömmlich zu sein; Fleischkost ist
gefährlich; Gemüse müssen auf bestimmte Art zubereitet sein; allmählich
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199