Page - 157 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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kommt in dieses Medizinieren und Diagnostizieren ein kranker solipsistischer
Zug, ein gespanntes, überspanntes Auf-sich-selber-Starren. Nichts hat
Nietzsches Schmerz so schmerzhaft gemacht als diese ewige Vivisektion; wie
immer leidet der Psychologe zwiefach stark als jeder andere, weil er sein
Leiden verdoppelt erlebt, einmal in der Realität und noch einmal in der
Selbstbetrachtung.
Aber Nietzsche ist ein Genie der gewaltsamen Umwendungen; im
Gegensatz zu Goethe, der Gefahren genial auszuweichen verstand, hat er eine
ungeheuer verwegene Art, ihnen geradewegs auf den Leib zu gehen und den
Stier bei den Hörnern zu fassen. Die Psychologie, das Geistige – ich
versuchte es eben zu schildern – treibt den bloß Empfindlichen tief ins
Leiden; aber gerade die Psychologie, gerade der Geist reißt ihn wieder in die
Gesundheit zurück. Schon ist er nach zehn Jahren unaufhörlichen
Gequältseins auf einem »Tiefpunkt der Vitalität«, schon meint man ihn
zerrissen, zermürbt von seinen Nerven, einer verzweifelten Depression, einer
pessimistischen Selbstaufgabe zur Beute. Da plötzlich gibt es in Nietzsches
geistiger Haltung eine jener blitzartigen, wahrhaft inspirativen
»Überwindungen«, eine jener Selbsterkennungen und Selbstrettungen, die
seine geistige Geschichte so großartig dramatisch und aufregend machen. Mit
einem Ruck reißt er die Krankheit, die ihm den Boden unterwühlt, plötzlich
zu sich hinauf und drückt sie ans Herz: es ist das ein ganz geheimnisvoller
(nicht auf den Tag bestimmbarer) Augenblick, eine jener blitzartigen
Inspirationen inmitten seines Werkes, wo Nietzsche seine Krankheit für sich
» entdeckt«, wo er im Staunen darüber, daß er noch immer, noch immer am
Leben ist, im Staunen, daß in den tiefsten Depressionen ihm die Produktivität,
statt zu erlahmen, nur gewachsen ist, proklamiert, daß diese Leiden, diese
Entbehrung für ihn »zur Sache«, zur heiligen, ihm einzig heiligen Sache
seines Lebens gehören. Und von diesem Augenblick an, wo sein Geist kein
Mitleid mehr mit dem Körper hat, kein Mit-Leiden mit seinem Leiden, sieht
er zum erstenmal sein Leben in einer neuen Perspektive, seine Krankheit in
tieferem Sinn. Mit ausgebreiteten Armen nimmt er sie in sein Schicksal
wissend hinein als ein Notwendiges, und da er als der fanatische »Fürsprecher
des Lebens« alles an seiner Existenz liebt, so sagt er auch zu seinem Leiden
jenes hymnische Ja Zarathustras, jenes jubelnde »Noch einmal! noch einmal
in alle Ewigkeit!« Aus dem bloßen Anerkennen wird ein Erkennen, aus dem
Erkennen eine Dankbarkeit. Denn aus dieser höheren Schau, die den Blick
weghebt vom eigenen Leiden, entdeckt er (mit jener übertreiblichen Freude
an der Magie des Extrems), daß er keiner Macht der Erde so sehr verbunden
und verschuldet ist wie seiner Krankheit, daß er gerade dem grimmigsten
Folterknecht sein Höchstes dankt: die Freiheit. Die Freiheit der äußeren
Existenz, die Freiheit des Geistes. Denn überall, wo er ruhen, träg werden,
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199