Page - 158 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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verdicken, verflachen, wo er vorzeitig sich in Amt, Beruf und Geistesform
versteinern wollte, hat sie ihn mit ihrem Stachel gewaltsam herausgetrieben.
Der Krankheit dankt er, daß er vom Militärdienst errettet und der
Wissenschaft zurückgegeben war, der Krankheit dankt er, daß er in dieser
Wissenschaft und Philologie nicht stocken blieb; sie hat ihn aus dem Baseler
Universitätskreis hinaus in die »Pension« und damit in die Welt, zurück in
sich selbst gejagt. Den kranken Augen ist er verpflichtet für die »Erlösung
vom Buche«, »der größten Wohltat, die ich mir selbst erwiesen habe«. Aus
allen Rinden, die ihn umwachsen wollten, aus allen Bindungen, die ihn zu
umschließen begannen, hat sein Leiden ihn (schmerzhaft, aber hilfreich)
herausgeschält. »Die Krankheit löst mich gleichsam aus sich selbst heraus«,
bekennt er selbst – sie war ihm Geburtshelfer des innern Menschen,
Wehemutter und Wehetäter zugleich. Ihr dankt er, daß das Leben für ihn statt
einer Gewohnheit eine Erneuerung wurde, eine Entdeckung: »Ich entdeckte
das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet.«
Denn – so überjauchzt der Gequälte nun dankbar seine Qualen in seiner
großen Hymne an den heiligen Schmerz – nur das Leiden allein macht
wissend. Die bloß angeerbte und nie erschütterte Bärengesundheit ist dumpf
und ahnungslos zufrieden. Sie will nichts, sie fragt nichts, und darum gibt es
keine Psychologie bei den Gesunden. Alles Wissen kommt aus dem Leiden,
»der Schmerz fragt immer nach den Ursachen, während die Lust geneigt ist,
stehenzubleiben und nicht nach rückwärts zu schauen«. Man wird »immer
feiner im Schmerz«, das Leiden, das stete wühlende, schabende Leiden gräbt
das Erdreich der Seele um, und gerade das Pflughafte, das Schmerzhafte
dieses innern Umwühlens schafft erst Auflockerung für die neue geistige
Frucht. »Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, er allein
zwingt uns, in unsere letzte Tiefe zu steigen«, und gerade wem er beinahe
tödlich war, darf dann das stolze Wort von sich sagen: »Ich weiß mehr vom
Leben, weil ich so oft nahe daran war, es zu verlieren.«
Nicht durch einen Kunstgriff also, durch ein Verneinen seines körperlichen
Notstandes überwindet Nietzsche alles Leiden, sondern durch Erkennen: der
souveräne Wertfinder entdeckt sich den Wert seiner Krankheit. Ein
umgekehrter Märtyrer, hat er nicht zuerst den Glauben, für den er sich quälen
läßt; sondern erst aus der Qual, aus der Folter formt er sich den Glauben.
Aber seine wissende Chemie entdeckt nicht nur den Wert seines Krankseins,
sondern auch seinen Gegenpol: den Wert der Gesundheit; sie beide erst
schenken das Vollgefühl des Lebens, den ewigen Spannungszustand von Qual
und Ekstase, mit dem der Mensch sich ins Unendlicheschnellt. Beide sind
notwendig, Krankheit als Mittel, Gesundheit als Zweck, Krankheit als Weg,
Gesundheit als Ziel. Denn Leiden im Sinne Nietzsches ist ja nur das eine
dunkle Ufer der Krankheit, das andere erglänzt in einem unsäglichen Licht, es
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199