Page - 159 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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heißt Genesen, und nur vom Ufer des Leidens wird es erreicht. Genesen,
Gesundwerden bedeutet aber mehr als Erreichung des normalen
Lebenszustandes, nicht nur Verwandlung, sondern unendlich mehr, es ist auch
Steigerung, Erhöhung und Verfeinerung: man geht aus der Krankheit
»gehäuteter, kitzliger, mit einem feineren Geschmack für die Freude, mit
einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen und einer
zweiten gefährlicheren Unschuld in der Freude« hervor, kindlich zugleich und
hundertmal raffinierter, als man je gewesen ist. Und diese zweite Gesundheit
hinter der Krankheit, diese nicht blind hingenommene, sondern sehnsüchtig
ersehnte, gewaltsam erzwungene, mit hundert Seufzern, Schreien und
Notständen erkaufte, diese »eroberte, erlittene« Gesundheit ist tausendmal
lebendiger als das stumpfe Wohlbehagen der immer Gesunden. Und wer von
der zitternden Süße, dem prickelnden Rausch solchen Genesens einmal
gekostet, der verbrennt vor Gelüst, ihn immer wieder zu erleben: er wirft sich
gern immer und immer wieder in die schweflige Feuerflut der brennenden
Qualen, nur um immer wieder zu diesem »bezaubernden Gefühl des
Gesundens« zu gelangen, zu dieser goldenen Trunkenheit, die Nietzschen all
die gemeinen Stimulantia des Alkohols und Nikotins tausendfach ersetzt und
sie übertrifft. Aber kaum daß Nietzsche den Sinn seines Leidens sich entdeckt
und die große Wollust des Gesundens, so will er sie in ein Apostolat
verwandeln, in den Sinn der Welt. Wie alle Dämonischen, erliegt er der
eigenen Ekstase und kann nun nicht mehr satt werden an dem funkelnden
Wechselspiel von Lust und Leiden; er will noch tiefer hinabgemartert sein in
die Qual, um sich höher hinaufzuschwingen in das allerletzte, allerseligste,
allerklarste, allerkraftvollste Genesen. Und in diesem funkelnden, lechzenden
Rausch verwechselt er allmählich seinen rasenden Willen zur Gesundheit mit
der Gesundheit selbst, sein Fieber mit Vitalität, seinen Untergangstaumel mit
errungener Kraft. Gesundheit! Gesundheit! – wie ein Panier schwenkt der von
sich selber Trunkene das Wort über sich her: sie soll der Sinn der Welt sein,
das Ziel des Lebens, das Maß aller Dinge, sie allein der Pegel aller Werte; und
der selbstvon Qual zu Qual im Dunkel jahrzehntelang getappt, überschreit
sich nun in einem Hymnus der Vitalität, der brutalen, machttrunkenen Kraft.
Ungeheuer, mit brennenden Farben, entrollt er die Fahne des Willens zur
Macht, des Willens zum Leben, zur Härte, zur Grausamkeit, und trägt sie
ekstatisch einer kommenden Menschheit voran – ahnungslos, daß die Kraft,
die ihn beseelt, das Panier so hoch zu halten, dieselbe ist, die gleichzeitig den
Bogen spannt mit dem für ihn tödlichen Pfeil.
Denn diese letzte Gesundheit Nietzsches, die sich selbst im Überschwang
zum Dithyrambus hinaufstimuliert, ist eine Autosuggestion, eine »erfundene«
Gesundheit. Gerade wie er die Hände jubilierend zum Himmel hebt im
Rausche seiner Kraft, wie er im Ecce homo die Worte hinschreibt von seiner
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199