Page - 165 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Kathedertalar, sondern kriegerisch gepanzert und bewehrt. Die andern vor
ihm, gleichfalls kühne und heldenhafte Seefahrer des Geistes, hatten
Kontinente und Reiche entdeckt, aber gewissermaßen in einer
zivilisatorischen, einer nutzhaften Absicht, um sie der Menschheit zu erobern,
die Landkarte weiter in die Terra incognita des Denkens zu ergänzen. Sie
pflanzen die Fahnen in ihrem eroberten Neuland auf, bauen Städte, Tempel
und neue Straßen in das neue Unbekannte, und hinter ihnen kommen die
Gouverneure und Verwalter, das Gewonnene zu pflügen und zu ernten, die
Kommentatoren und Professoren, die Menschen der Bildung. Aber ihrer
Mühe letzter Sinn war immer Ruhe, Frieden und Sicherung: sie wollen
Normen und Gesetze, also eine höhere Ordnung verbreiten. Nietzsche
dagegen bricht in die deutsche Philosophie wie die Flibustier am Ende des 16.
Jahrhunderts in die spanische Welt, ein Schwarm wilder, verwegener,
zuchtloser Desperados ohne Nation, ohne Herrscher, ohne König, ohne
Flagge, ohne Heim und Aufenthalt. Wie jene erobert er nichts für sich und für
keinen andern nach ihm, weder für einen Gott, noch einen König, noch einen
Glauben, sondern einzig um der Freude der Eroberung willen, denn er will
nichts besitzen, erwerben, erringen. Ihn, den leidenschaftlichen Störenfried
aller »braunen Ruhe«, aller Behaglichkeit lüstet es einzig, die gesicherte,
genießerische Ruhe der Menschen zu zerstören, mit Feuer und Schreck
Wachheit zu verbreiten, die ihm so kostbar ist wie den Friedensmenschen der
dumpfe, braune Schlaf. Hinter ihm sind, wie nach jener Flibustierfahrt,
erbrochene Kirchen, entweihte jahrtausendalte Heiligtümer, gestürzte Altäre,
geschändete Sentiments, gemordete Überzeugungen, erbrochene
Moralhürden, ein brennender Horizont, ein ungeheures Fanal der Kühnheit
und der Kraft. Aber er wendet sich nie zurück, weder um sich des
Gewonnenen zu freuen, noch um es zu besitzen: das Unbekannte, nie
Eroberte, nie Erkannte ist seine unendliche Zone, das Entladen seiner Kraft,
das »Aufstören der Schläfrigkeit« seine einzige Lust. Keinem Glauben
gehörig, keinem Lande verschworen, die schwarze Flagge des Immoralisten
auf dem umgestürzten Mast, vor sich das heilige Unbekannte, ewig
Ungewisse, dem er sich dämonisch verschwistert fühlt, rüstet er unablässig zu
neuen gefährlichen Fahrten. Und einsam in allen Gefahren singt er sich selber
zum Ruhme seinen herrlichen Piratengesang, sein Flammenlied, sein
Schicksalslied:
Ja, ich weiß, woher ich stamme,
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr ich mich,
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse,
Flamme bin ich sicherlich –.
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199