Page - 171 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Image of the Page - 171 -
Text of the Page - 171 -
Geist in das Schicksal und erzeugt die Tragödie. Jeder, der vom Leben ein
einzelnes Gesetz erzwingen will, der in diesem Chaos der Leidenschaften eine
einzige, seine Leidenschaft durchsetzen will, wird einsam und als Einsamer
vernichtet – ein törichter Schwärmer, wenn er unbewußt handelt, ein Held,
wenn er die Gefahr kennt und sie dennoch herausfordert. Nietzsche, so
leidenschaftlich er in seiner Redlichkeit ist, gehört zu den Wissenden. Er
kennt die Gefahr, in die er sich begibt, er weiß vom ersten Augenblick, von
der ersten geschriebenen Schrift an, daß sein Denken um ein gefährliches, ein
tragisches Zentrum kreist, daß er ein gefährliches Leben lebt, aber – als der
wahrhaft tragische Held des Geistes – liebt er das Leben nur um dieser Gefahr
willen, die ihm das seine vernichtet. »Baut eure Häuser an den Vesuv«, ruft er
den Philosophen zu, um sie zu höherer Schicksalsbewußtheit zu spornen,
denn »der Grad der Gefährlichkeit, mit der ein Mensch mit sich selber lebt«,
ist für ihn das einzige gültige Maß aller Größe. Nur wer das Ganze im
erhabenen Spiel um das Ganze einsetzt, kann die Unendlichkeit gewinnen,
nur wer sein eigenes Leben riskiert, seiner engen Erdenform den Wert einer
Unendlichkeit geben. »Fiat veritas, pereat vita«, möge es uns das Leben
kosten, wenn nur die Wahrhaftigkeit verwirklicht wird: die Leidenschaft ist
mehr als das Dasein, der Sinn des Lebens mehr als das Leben selbst. Mit
ungeheurer Macht reißt der Ekstatiker allmählich diesen Gedanken ins Große
und weit über sein eigenes Schicksal hinaus: »Wir alle wollen lieber den
Untergang der Menschheit als den Untergang der Erkenntnis. « Je
gefahrvoller sein Schicksal wird, je näher schon in dem immer höheren
Himmel des Geistes er den Blitz über sich hängen fühlt, um so
herausfordernder, um so schicksalslustiger wird sein Verlangen nach diesem
letzten Konflikt. »Ich kenne mein Los«, sagt er knapp vor dem Untergang,
»es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures
anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste
Gewissenskollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles,
was bis dahin geglaubt, und geheiligt war« – aber Nietzsche liebt diesen
letzten Abgrund alles Wissens, und sein ganzes Wesen drängt dieser tödlichen
Entscheidung entgegen. »Wieviel Wahrheit kann der Mensch ertragen?« das
war die Frage des tapferen Denkers ein ganzes Leben hindurch – aber um
dieses Maß der Erkenntnisfähigkeit ganz zu ergründen, muß er die Zone der
Sicherheit überschreiten und die Stufe erreichen, wo der Mensch
sie nicht mehr erträgt, wo die letzte Erkenntnis tödlich wird, wo das Licht zu
nahe kommt und das Schauen blendet. Und gerade diese letzten Schritte
empor sind die unvergeßlichsten und mächtigsten in der Tragödie seines
Schicksals: nie war sein Geist heller, seine Seele leidenschaftlicher, sein Wort
mehr Jubel und Musik, als da er sich wissend und wollend von der Höhe
seines Lebens in die Tiefe der Vernichtung stürzt.
171
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199