Page - 173 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
Image of the Page - 173 -
Text of the Page - 173 -
dauernd gebunden oder gar verpflichtet erachtet. »Ein Philosoph braucht und
verbraucht Überzeugungen«, antwortet er überlegen den Seßhaften, die stolz
sich ihres Charakters und ihrer Überzeugungen rühmen. Jede seiner
Meinungen hat er nur als Durchgang, ja sogar sein eigenes Ich, seine Haut,
seinen Leib, sein geistiges Gebilde hat er immer nur als Vielzahl, als
»Gesellschaftsbau vieler Seelen« empfunden: wörtlich sagt er einmal das
allerkühnste Wort: »Es ist nachteilig für den Denker, an eine einzige Person
gebunden zu sein. Wenn man sich selbst gefunden hat, muß man versuchen,
sich von Zeit zu Zeit zu verlieren – und dann wieder zu finden.« Sein Wesen
ist fortwährende Verwandlung, Selbsterkennen durch Selbstverlust, also
ewiges Werden, und niemals ein starres, ruhendes Sein: »Werde, der du bist«
darum der einzige Lebensimperativ, der sich in seinen ganzen Schriften
findet. Nun hat ja auch Goethe ähnlich gespottet, er sei immer schon in Jena,
wenn man ihn in Weimar suche, und Nietzsches Lieblingsbild von der
abgestreiften Schlangenhaut steht hundert Jahre früher in einem Goethe-Brief,
aber doch, wie kontradiktorisch sind Goethes besonnene Entwicklung und
Nietzsches eruptive Verwandlung! Denn Goethe verbreitert sein Leben um ein
fixes Zentrum, so wie ein Baum um einen verborgenen inneren Schaft jährlich
Ring an Ring setzt und, während er die äußere Rinde sprengt, immer fester,
wuchtender, höher und weit ausschauender wird. Seine Entwicklung
geschieht durch Geduld, durch eine stetige zähe, aufzunehmende Kraft, und
bei allem Fortwachsen gleichzeitig durch Resistenz der Selbstverteidigung –
die Nietzsches aber immer durch Gewalt, durch stoßhafte Vehemenz des
Willens. Goethe erweitert sich, ohne je einen Teil seines Selbst preiszugeben,
er braucht sich nie zu verleugnen, um sich zu steigern; Nietzsche dagegen, der
Wandelhafte, muß immer sich ganz zerstören, um sich ganz wieder
aufzubauen. Alle seine Selbstgewinnungen und Neuentdeckungen resultieren
aus mörderischen Selbstzerätzungen und Glaubensverlusten, aus
Dekomposition – um höher zu kommen, muß er immer einen Teil seines Ichs
wegwerfen (indes Goethe nichts preisgibt und nur chemisch verwandelt und
destilliert). Nichts bleibt in seinem wandelhaften Weltbild vom Früheren, vom
Vergangenen gültig und unwidersprochen: darum sind auch seine einzelnen
Phasen gar nicht brüderhaft, sondern feindselig gegeneinandergestellt. Immer
ist er auf dem Weg nach Damaskus; nicht bloß eine einmalige Umwendung
seines Glaubens, seines Gefühls wird ihm zuteil, sondern unzählige, denn
jedes neue geistige Element dringt bei ihm nicht bloß ins Geistige ein,
sondern bis ins Eingeweide: moralische und intellektuelle Erkenntnisse
formen sich bei ihm chemisch in andern Blutlauf, anderes Gefühl, anderes
Denken um. Als verwegener Spieler setzt Nietzsche (wie Hölderlin einmal
von sich fordert) »die ganze Seele der zerstörenden Macht der Wirklichkeit
aus«, und von allem Anfang an haben Erfahrung und Eindrücke auf ihn diese
Form vehementer und völlig vulkanischer Einbrüche. Wie er als junger
173
Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199