Page - 176 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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liegen ununterbrochene Schlagwetter von Verwandlungen, vollkommene
Umstülpungen des innersten Wesens, der brüske Windwechsel von Philologie
zur Musik, vom Ernst zur Ekstase, von sachlicher Geduld zum Tanz. Mit
sechsunddreißig Jahren ist Nietzsche Prinz Vogelfrei, Immoralist, Skeptiker,
Dichter und Musikant, »besser jung« als je in seiner Jugend, frei von aller
Vergangenheit und eigenen Wissenschaft, frei schon von der Gegenwart und
ganz Geselle des jenseitigen, des zukünftigen Menschen. Statt daß also die
Jahre der Entwicklung wie bei dem normalen Künstler sein Leben
stabilisieren, verwurzelter, ernster, zielhafter machen, lösen sie es nur
leidenschaftlich von allen Bindungen und Beziehungen los. Ungeheuer,
unvergleichbar ist das Tempo dieser Verjugendlichung. Mit vierzig Jahren hat
Nietzsches Sprache, seine Gedanken, sein Wesen mehr rote Blutkörperchen,
mehr frische Farbe, Verwegenheit, Leidenschaft und Musik als mit siebzehn,
und der Einsame von Sils-Maria geht leichteren, beschwingteren, tanzhafteren
Schrittes durch sein Werk als der frühere vierundzwanzigjährige, frühalte
Professor. Bei Nietzsche intensifiziert sich also das Lebensgefühl, statt sich zu
beruhigen: immer geschwinder, freier, flughafter, vielfältiger, spannkräftiger,
boshafter, zynischer werden seine Verwandlungen; nirgends findet er mehr
einen »Standpunkt« für seinen eilenden Geist. Kaum hat er sich wo
eingewachsen, so »krümmt und bricht sich die Haut«: schließlich kommt er
seinem eigenen Leben gar nicht mehr nach mit seinem Sich-selbst-Erleben,
und die Veränderungen geraten allmählich in ein kinematographisches
Tempo, wo das Bild ständig zittert und verflirrt. Gerade die ihn am nächsten
zu kennen meinen, die Freunde seiner früheren Lebensalter, von denen fast
alle festgenagelt sitzen in ihrer Wissenschaft, ihrer Meinung, ihrem System,
staunen ihn immer fremder von Begegnung zu Begegnung an. Erschreckt
sehen sie in seinem immer mehr verjugendlichten geistigen Gesicht neue
Züge, die auf nichts Früheres zurückdeuten; und ihm selbst, dem immerzu
Verwandelten, kommt es geradezu gespenstig vor, wenn er seinen eigenen
Titel hört, wenn er mit jenem »Professor Friedrich Nietzsche in Basel«, dem
Philologen, »verwechselt« wird, mit diesem greisen und weisen Mann, der er
selbst einmal vor zwanzig Jahren gewesen zu sein sich nur mühsam erinnert!
Vielleicht hat noch nie jemand mit solchem Radikalismus alles von sich
weggelebt wie Nietzsche, alles aus sich herausgestoßen, was von früheren
Rudimenten und Sentiments noch zurückgeblieben ist: darum auch sein
furchtbares Alleinsein in den letzten Jahren. Denn alle Verbindungen mit dem
Einst hat er abgerissen; und um sich Neuem zu verbinden, dazu ist das Tempo
seiner letzten Jahre, seiner letzten Verwandlungen doch ein zu hitziges. Er
saust an allen Menschen, an allen Erscheinungen gleichsam nur vorüber; und
je näherer sich selber kommt oder zu kommen scheint, desto hitziger wird
seine Gier, sich wieder zu entweichen. Immer radikaler werden die
Verfremdungen seines Wesens, immer brüsker seine Sprünge vom Nein zum
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199