Page - 179 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Diese erste Entscheidung Nietzsches auf der Argonautenfahrt zu sich selbst
ist der Süden: und sie bleibt die Verwandlung seiner Verwandlungen. Auch in
Goethes Leben bedeutet die italienische Reise ähnlich scharfe Zäsur; auch er
flüchtet nach Italien zu seinem wahren Selbst, aus Gebundenheiten in eine
Freiheit, aus bloßem Weiterleben ins Erlebnis. Auch über ihn bricht beim
Überschreiten der Alpen aus dem ersten Glanz der italienischen Sonne eine
Verwandlung mit eruptiver Gewalt herein: »Mir ist«, schreibt er noch im
Trento, »als ob ich von einer Grönlandfahrt zurückkehrte.« Auch er ein
»Winterkranker«, der in Deutschland unter dem »bösen Himmel leidet«, auch
er, eine durchaus auf Licht und höhere Helligkeit angelegte Natur, fühlt sofort
ein elementares Aufschießen innersten Gefühls, ein Aufgelockert-, ein
Losgelöstsein, einen Drang neuer, persönlichster Freiheit beim Betreten
italienischen Bodens. Aber Goethe erlebt das Wunder des Südens zu spät, erst
in seinem vierzigsten Jahr; die Kruste ist schon hart um seine, im letzten
planhafte und besonnene Natur: ein Teil seines Wesens, seines Denkens ist
zurückgeblieben in Weimar bei Hof und Haus und Würde und Amt. Er ist
bereits zu stark in sich selbst kristallisiert, um noch jemals von irgendeinem
Element vollkommen aufgelöst oder verwandelt zu werden. Sich
überwältigen zu lassen, wäre gegen seine organische Lebensform: Goethe will
immer Herr seines Schicksals bleiben, von den Dingen nur genau so viel
nehmen, als er ihnen erlaubt (indes Nietzsche, Hölderlin, Kleist, die
Verschwender, sich immer ungeteilt mit ganzer Seele jedem Eindruck
hingeben, beglückt, von ihm ganz wieder ins Strömende, ins Feuerflüssige
aufgelöst zu werden). Goethe findet in Italien, was er sucht, und nicht viel
mehr: er sucht tiefere Zusammenhänge (Nietzsche höhere Freiheiten), die
großen Vergangenheiten (Nietzsche die große Zukunft und die Loslösung von
aller Historie); er forscht eigentlich nach den Dingen unter derErde: der
antiken Kunst, dem römischen Geist, den Mysterien von Pflanze und Gestein
(indes Nietzsche sich trunken und gesund blickt an den Dingen über sich:
dem saphirnen Himmel, dem bis ins Unendliche klaren Horizont, der Magie
des hingeworfenen Lichts, das ihm in alle Poren dringt). Das Erlebnis
Goethes ist darum vor allem zerebral und ästhetisch, jenes Nietzsches vital:
bringt jener aus Italien vor allem einen Kunststil zurück, so entdeckt sich
Nietzsche dort einen Lebensstil. Goethe wird bloß befruchtet, Nietzsche
umgepflanzt und erneuert. Auch der Weimarer fühlt zwar das Bedürfnis nach
Erneuerung (»Gewiß, es wäre besser, ich käme gar nicht wieder, wenn ich
nicht wiedergeboren zurückkommen kann«), aber er hat nur wie jede schon
halberstarrte Form die Fähigkeit für »Eindrücke«. Für eine so vollkommene
Verwandlung bis ins letzte aber wie jene Nietzsches ist der Vierzigjährige
eben schon zu durchgestaltet, zu eigenmächtig, und vor allem unwillig: sein
starker namhafter Selbstbehauptungstrieb (der ja in späteren Jahren ganz zu
Starre und Panzer erfrostet) gibt der Wandlung neben der Beharrung nur
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199