Page - 190 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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angreifen, um die Bücher überhaupt noch erscheinen zu lassen. Aber nicht
nur, daß niemand sie kauft – selbst wenn er sie verschenkt, findet Nietzsche,
der letzte Nietzsche, keine Leser mehr. Vom vierten Zarathustrateil läßt er auf
eigene Kosten bloß vierzig Exemplare mehr drucken – und findet dann nur
sieben Menschen im deutschen Siebzigmillionenreich, denen er ein Exemplar
zuschicken kann, so fremd, so unfaßbar fremd ist Nietzsche auf der Höhe
seines Schaffens der Zeit geworden. Niemand gibt ihm einen Brocken
Zutrauen, ein Senfkorn Dank: im Gegenteil, um den allerletzten der
Jugendfreunde, um Overbeck nicht zu verlieren, muß er sich entschuldigen,
daß er Bücher schreibt, sie sich verzeihen lassen. »Alter Freund«, – man hört
den ängstlichen Ton, man sieht das verstörte Gesicht, die aufgehobenen
Hände, die Geste eines Zurückgestoßenen, der noch einen neuen Schlag
fürchtet – »lies es von vorn und von hinten, laß Dich nicht verwirren und
entfremden. Nimm alle Kraft Deines Wohlwollens für mich zusammen. Ist
Dir das Buch unerträglich, so vielleicht hundert Einzelheiten nicht.« So reicht
1887 der größte Geist des Jahrhunderts seinen Zeitgenossen die größten
Bücher der Zeit, und an einer Freundschaft weiß er nichts Heroischeres zu
rühmen, als daß sie nichts hätte zerstören können – »auch der Zarathustra
nicht«. Auch der Zarathustra nicht! – eine solche Belastungsprobe, eine
solche Peinlichkeit ist Nietzsches Schaffen für seine nächsten Menschen
geworden, so unüberbrückbar die Distanz seines Genies zur Inferiorität der
Zeit. Immer dünner wird die Luft um seinen Atem, immer stiller, immer
leerer.
Diese Stille macht die letzte, die siebente Einsamkeit Nietzsches zur Hölle:
an ihrer metallenen Wand zerstößt er sich das Gehirn. »Nach einem solchen
Anrufe, wie mein Zarathustra es war, aus der innersten Seele heraus, nicht
einen Laut von Antwort zu hören, nichts, nichts, immer nur die lautlose,
nunmehr vertausendfachte Einsamkeit – das hat etwas über alle Begriffe
Furchtbares, daran kann der Stärkste zugrunde gehen«, stöhnt er einmal auf
und fügt bei: »Und ich bin nicht der Stärkste. Mir ist seitdem zumute, als sei
ich tödlich verwundet.« Aber es ist nicht Beifall, Zustimmung, Ruhm, den er
verlangt – im Gegenteil, nichts wäre seinem kriegerischen Temperament
willkommener als Zorn, Entrüstung, Verachtung, ja selbst Hohn – »in dem
Zustand eines bis zum Zerspringen gespannten Bogens tut einem jeder Affekt
wohl, vorausgesetzt, daß er gewaltsam ist« –, aber nur irgendeine Antwort,
kalt oder heiß, oder sogar lau, nur etwas, irgend etwas, das ihm seine
Existenz, sein geistiges Dasein bezeugt. Aber selbst seine Freunde weichen
ängstlich aus, biegen in ihren Briefen an jedem Urteil wie an etwas
Peinlichem vorbei. Und das ist die Wunde, die sich immer tiefer nach innen
frißt, seinen Stolz vereitert, sein Selbstbewußtsein entzündet, seine Seele
brandig macht, »die Wunde, keine Antwort zu haben«. Sie allein hat seine
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199