Page - 191 - in Der Kampf mit dem Dämon - Hölderlin · Kleist · Nietzsche
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Einsamkeit vergiftet und fiebrig gemacht.
Und dieses Fieber schwillt plötzlich kochend aus dem Verwundeten heraus.
Legt man das Ohr näher an die Schriften und Briefe seiner letzten Jahre, so
hört man, wie unter dem ungeheuren Druck dieser zu dünnen Luft ein
gereiztes, krankes Pochen im Blute beginnt: das Herz von Bergsteigern, von
Luftschiffern hat diesen heftigen hämmernden Ton aufgepumpter Lungen, die
letzten Briefe Kleistens dieses heftige hämmernde Gespanntsein, dies
gefährliche Dröhnen und Knistern einer Maschine knapp vor dem
Zerspringen. Ein ungeduldiger nervöser Zug kommt in Nietzsches geduldiges,
vornehmes Gehaben: »das lange Schweigen hat meinen Stolz exasperiert« –
er will, er fordert jetzt Antwort um jeden Preis. Er hetzt den Druck mit
Briefen und Telegrammen, nur rasch, nur rasch muß gedruckt werden, als
gelte es etwas zu versäumen. Er wartet nicht mehr, seinem Plan gemäß, bis
der »Wille zur Macht«, sein Hauptwerk, vollendet ist, sondern reißt
ungeduldig Teile davon los und schleudert sie wie Brandfackeln in die Zeit
hinein. Der »halkyonische Ton« ist verloschen, ein Stöhnen ist in diesen
letzten Werken von verpreßtem Leiden, von maßlosem höhnischem Zorn: sie
sind mit der Peitsche der Ungeduld aus ihm herausgehetzt. Der Gleichgültige
beginnt, in seinem Stolz »exasperiert«, die Zeit zu provozieren, damit sie
endlich mit einem Wutschrei gegen ihn reagiere. Und um sie noch mehr
herauszufordern, erzählt er im »Ecce homo« sein Leben, »mit einem
Zynismus, der welthistorisch werden wird«. Nie sind Bücher aus einer
solchen Gier, aus einem so kranken zuckenden Fieber der Ungeduld nach
Antwort geschrieben worden wie die letzten monumentalen Pamphlete
Nietzsches. Eine entsetzliche Angst, nicht mehr den Erfolg zu überleben, eine
dämonische Ungeduld ist in diesem Lechzen nach Antwort. Und man spürt,
wie er nach jedem Geißelschlag eine Sekunde innehält, wie er sich aus sich
selber in entsetzlicher Spannung herausbeugt, um den Schrei der Getroffenen
zu hören. Aber nichts rührt sich. Keine Antwort kommt mehr herauf in die
»azurne« Einsamkeit. Wie ein eiserner Ring liegt das Schweigen um seine
Kehle, von keinem Schrei, nicht von dem furchtbarsten, den die Menschheit
gekannt, mehr zu zerbrechen. Und er fühlt: kein Gott erlöst ihn mehr aus dem
Kerker der letzten Einsamkeit.
Da packt den Verschmachtenden in seinen letzten Stunden apokalyptischer
Zorn. Wie der geblendete Polyphem schleudert er brüllend mit Felsblöcken
um sich, ohne zu sehen, ob sie treffen; und weil er niemanden hat, mit ihm zu
leiden, mit ihm zu fühlen, so faßt er sich selbst an sein eigenes zuckendes
Herz. Alle Götter hat er ermordet, so macht er sich selber zum Gott –
»müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um solcher Tat würdig zu
erscheinen?« – Alle Altäre hat er zerschlagen, so baut er sich selber seinen
Altar, den »Ecce homo«, um sich zu feiern, den niemand feiert; sich zu
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Der Kampf mit dem Dämon
Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Title
- Der Kampf mit dem Dämon
- Subtitle
- Hölderlin · Kleist · Nietzsche
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1925
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 202
- Keywords
- Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik
Table of contents
- Vorwort 5
- Teil 1 - Hölderlin 15
- Die heilige Schar 17
- Kindheit 21
- Bildnis in Tübingen 26
- Mission des Dichters 29
- Der Mythus der Dichtung 34
- Phaeton oder die Begeisterung 40
- Ausfahrt in die Welt 46
- Gefährliche Begegnung 48
- Diotima 56
- Nachtigallengesang im Dunkeln 61
- Hyperion 63
- Der Tod des Empedokles 68
- Das Hölderlinsche Gedicht 74
- Sturz ins Unendliche 81
- Purpurne Finsternis 87
- Scardanelli 91
- Teil 2 - Heinrich von Kleist 95
- Teil 3 - Friedrich Nietzsche 143
- Tragödie ohne Gestalten 145
- Doppelbildnis 149
- Apologie der Krankheit 153
- Der Don Juan der Erkenntnis 161
- Leidenschaft der Redlichkeit 166
- Wandlungen zu sich selbst 172
- Entdeckung des Südens 178
- Flucht zur Musik 185
- Die siebente Einsamkeit 189
- Der Tanz über dem Abgrund 193
- Der Erzieher zur Freiheit 199