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Kirchliches Schrifttum 161
Kompetenzen des
Papstes als Richter
Schlusspartien
es um ein Kind ging, um einen jener also, qui nondum habent usum liberi arbitrii ac-
tualem ([3] ; „die noch keinen tatsächlichen Gebrauch von ihrem freien Willen ma-
chen können“) : dies warf nämlich die Frage nach dem Gewicht bewusst getroffener
Entscheidungen bzw. nach den Auswirkungen des Fehlens solcher Entscheidungen
auf. In diesem Zusammenhang stehen weit ausholende Ausführungen über den
Ursprung von Wundern, den einzigen wirklichen Beweismitteln im Fall Simons.
Alles in allem gelangt Balneoregio zum Ergebnis, das Kind habe den Glauben non
loquendo, sed moriendo ([2] ; „nicht sprechend, sondern sterbend“) bekannt ; daher
sei seine Kanonisierung eine gleichsam selbstverständliche Folge.
Mit Blick auf Gegner, für die die eben dargelegte Argumentation nicht nach-
vollziehbar sein würde, greift Balneoregio im zentralen Abschnitt des Gutachtens,
dessen Gegenstand das Verfahren der Kanonisierung ist, das bereits angesprochene
Problem der Autorität des Papstes ein weiteres Mal auf, wobei der Akzent jetzt
auf den Kompetenzen und Erkenntnismöglichkeiten des Pontifex liegt. Den Kern
bilden Überlegungen zum Umgang eines Richters mit ihm vorgelegten Indizien
oder Beweisen, die durch vielfältige Zitate untermauert werden. Die Argumen-
tation kreist um tragende Begriffspaare, die modern anmuten : praesens iustitia /
aeterna iustitia („gegenwärtige vs. ewige Gerechtigkeit“) und verbum legis / intentio
legis („Wortlaut vs. Absicht des Gesetzes“). In jedem Fall komme zudem der consci-
entia („Gewissen“) maßgebliche Bedeutung zu, die für den Richter von Wichtig-
keit sei, weil er als lex animata („beseeltes Gesetz“) ein Korrektiv zur lex inanimata
(„seelenloses Gesetz“) darzustellen habe, die im Buchstaben des Gesetzes vorliege.
Die Ausführungen verdichten sich in der abschließend nahe gelegten Differenzie-
rung, der Richter stehe einerseits als Legislator über dem Gesetz, sei diesem aber
andererseits als Diener unterworfen, wobei jedoch auf den Papst keines der beiden
Muster direkt übertragen wird. Insgesamt stellt dieser Zentralteil einen Versuch
dar, nicht rigide vorzugehen, sondern mehrere Möglichkeiten offen zu lassen. Die
Argumentation wirkt lebensnah, teilweise wie eine Vorwegnahme von Mustern, die
später die Vorgangsweise der Jesuiten kennzeichnen sollten. Die Position des Ver-
fassers steht zwischen dem Versuch, formell befriedigende Lösungen anzubieten,
und der Überzeugung, dass es darauf letztlich nicht ankommen dürfe, gleichsam so,
als setzte er, auch das jesuitisch anmutend, ein Konzept von Gnade voraus, das im
gegenständlichen Fall Beweise im Grunde entbehrlich machen würde.
Diese Form menschlicher Großzügigkeit ist allerdings im Gutachten insgesamt
nicht dominant : Vor allem in den abschließenden Teilen wirkt es doktrinär. Dies
gilt weniger für den Versuch einer semantischen Präzisierung von Begriffen aus
dem Bereich der Heiligenverehrung im weitesten Sinne (adoratio, latreia, yperdulia,
dulia, honor, reverentia, prima adoratio, secunda adoratio usw.) mithilfe der schon
genannten Autoritäten als für jenen Passus, wo mit einer klaren Spitze gegen die
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Volume 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- TYROLIS LATINA
- Subtitle
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Volume
- 1
- Authors
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Editor
- Karlheinz Töchterle
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 602
- Keywords
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Überblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593