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Dichtung 261
Mentalitäts- und
Sozialgeschichte
Alessandrini,
Paedotrophia
Huius ego nummos concurans munere fungor,
Quod poscit vacuam suspicione fidem.
Ich, Johannes, kam zur Welt, als nach dreimal fünf Jahrhunderten seit Christus das zehn-
mal dritte Jahr da war [1530]. Der Erzbischof, der die Stadt Salzburg regiert, ein großzü-
giger, gerechter Fürst, hat mich als Diener. Ich kümmere mich um seine Finanzen und
bekleide damit ein Amt, das Treue erfordert, die über jeden Verdacht erhaben ist.
Wie dieser Auszug andeutet, ist die Progenies nicht nur konzeptionell, sondern
auch inhaltlich interessant. In mentalitätsgeschichtlicher Beziehung zeigt sie den
Stolz einer Bürgerfamilie des 16. Jhs. und die Werte, die diese für sich in Anspruch
nimmt. Neben ehelichen Tugenden wie Friedfertigkeit und Eintracht und beruf-
lichen wie Verlässlichkeit und Ehrlichkeit kommt dabei der Gottesfurcht überra-
gende Bedeutung zu ; nicht zufällig zitiert Lucas zum Abschluss aus Ps 128, der
Frömmigkeit und Familienglück eng miteinander verknüpft. In sozialgeschicht-
licher Hinsicht gewährt das Werk Einblick in die Heiratspolitik der Familie (die
Frauen der Söhne betonen gerne ihre gutbürgerliche Herkunft), v.a. aber in ihren
recht eindrucksvollen gesellschaftlichen Aufstieg : Immerhin neun von zwölf Söh-
nen machen im eigentlichen Sinne Karriere, hauptsächlich in der Finanzverwal-
tung : drei dienen den Fuggern, zwei Kaiser Maximilian II., je einer Erzherzog
Karl II., Ferdinand II., Cristoforo Madruzzo und seinem Salzburger Kollegen Jo-
hann Jakob von Kuen-Belasy.
Den Abschluss des vorliegenden Kapitels soll ein bemerkenswertes Werk bilden,
das im Tirol dieser Zeit für sich steht, nämlich das rund 800 Hexameter lange
Lehrepos Paedotrophia sive de puerorum educatione („Kinderaufzucht oder über die
Erziehung von Knaben“) des berühmten Trientner Arztes Giulio Alessandrini (vgl.
hier S. 362–364). Alessandrini verfasste das Gedicht in den 1540er-Jahren in Tri-
ent, widmete es dem spanischen Diplomaten und Dichter Diego Hurtado de Men-
doza, der dort von 1545 bis 1547 am Konzil teilnahm, und ließ es 1547 in Venedig
drucken. Offensichtlich fand es Anklang : 1559 wurde es in Zürich nachgedruckt,
1586 erschien eine um einige Gelegenheitsgedichte erweiterte Neuauflage in Trient.
Ihr Text liegt den folgenden Bemerkungen zugrunde.
Die Paedotrophia ist insgesamt chronologisch strukturiert und folgt dem Heranwachsen
des Kindes von der Geburt bis zum Beginn des Schulalters, doch werden in dieses Grund-
gerüst immer wieder Exkurse aller Art eingebaut. Nach Musenanruf, Themenangabe und
Widmung (Bl. 2rv) kommt Alessandrini zunächst auf die Behandlung des Neugeborenen
zu sprechen (Bl. 2v–3r). Die Frage, ob die Mutter oder eine Amme das Kind stillen soll,
wird, wie das praktisch immer der Fall ist, grundsätzlich zugunsten der Mutter entschieden
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Volume 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- TYROLIS LATINA
- Subtitle
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Volume
- 1
- Authors
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Editor
- Karlheinz Töchterle
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 602
- Keywords
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Überblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593