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Theologie und kirchliches Schrifttum 533
Problem-
bewusstsein :
Gnade und
Verdienst
Gegensätze
Abstufungen
Aporie
Unter den sachlichen Schwierigkeiten der Prädestinationslehre wiegt am schwers-
ten das Problem des Verhältnisses zwischen Gnade und menschlichem Verdienst :
Agiert der freie Wille des Menschen neben der Gnade oder wird er von ihr gelei-
tet ? Was ist Ursache, was Folge ? Gibt es eine Wechselseitigkeit ? Ihre Dringlichkeit
beziehen diese Fragen aus der Grundannahme, der Mensch sei ein Geschöpf eines
barmherzigen Gottes, dessen Willen alles umfasse und dessen Plan grundsätzlich
als Heilsplan zu gelten habe. Wie kann ein solcher Gott einige erwählen, andere
aber nicht ?
Boroi stellt sich diesen Fragen bewusst, wobei er das gedankliche Umfeld weit-
räumig ausleuchtet. Zwei Möglichkeiten, mit dem Problem umzugehen, scheinen
ihm die Omnipräsenz des Gegensatzes in der Welt sowie die Annahme von Ab-
stufungen im Grad der Seligkeit bzw. Verdammnis zu bieten. Was jene betrifft,
sieht Boroi die ganze Welt durch Antinomien strukturiert, die sich wechselseitig
bedingen, sodass der positive Teil eines Paares nicht ohne den negativen existieren
kann : So gibt es beispielsweise ohne Tod kein neues Leben. Von vielen in diesem
Zusammenhang zitierten Schriftstellen sei nur 2 Tim 2,20 erwähnt, wo Boroi in
Klammern gleich die eigene Deutung mitliefert : Non solum sunt vasa aurea et ar-
gentea (id est boni), sed et lignea et fictilia (id est mali) (127 ; „Es gibt nicht nur
Gefäße aus Gold und Silber – das sind die guten Menschen –, sondern auch solche
aus Holz und Ton – das sind die schlechten Menschen“). Ähnlich verhalte es sich
auch mit Verworfenen und Erwählten, wobei es die Aufgabe jener sei, diesen einen
Dienst zu erweisen : ohne Judas kein Erlösungswerk (127).
Abmildern lässt sich das genannte Problem in Borois Augen weiters durch die
Annahme, dass Seligkeit und Verworfenheit vielfältige Abstufungen kennen. Dabei
operiert er mit den geläufigen Vorstellungen von Paradies, Fegefeuer und Hölle :
In welchem dieser Räume bzw. an welchem Punkt zwischen ihnen der Einzelne
seinen Platz findet, hängt nach Boroi auch von seinem eigenen Tun ab. Obwohl
Gottes Gerechtigkeit schwerer wiege als Menschenwerk, habe man sich auch an das
Pauluswort „Die Stunde ist für uns gekommen, vom Schlaf aufzustehen“ zu halten
(Röm 13,11), denn Gott trete nicht als Rächer auf, bevor es die Sünde gebe (149).
Letztlich lassen sich die Schwierigkeiten jedoch, wie Boroi selbst bereitwillig
konzediert, nicht befriedigend lösen. So wird denn schon einleitend betont, dass
der Mensch in die finalis iustitia (13 ; „Gerechtigkeit des Jüngsten Tages“) nicht ein-
zudringen vermag, und hervorgehoben : Magna et inscrutabilia sunt iudicia eius (16 ;
„Groß und unergründlich sind seine [d.h. Gottes] Ratschlüsse“). Letztlich münden
Borois Anstrengungen in die Einsicht, eigentlich dĂĽrfe man die Frage nach dem
Sinn von Prädestination und Verwerfung gar nicht stellen, weil man ihre Ursache
nicht wirklich kenne. Vielmehr habe man sich mit dem zu begnĂĽgen, was de facto
(68 ; „als Tatsache“) gegeben sei. Diese Haltung entspricht dem im 17. Jh. weit ver-
TYROLIS LATINA
Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, Volume 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- TYROLIS LATINA
- Subtitle
- Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol
- Volume
- 1
- Authors
- Martin Korenjak
- Florian Schaffenrath
- Lav Šubarić
- Editor
- Karlheinz Töchterle
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78868-3
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 602
- Keywords
- Neo-Latin, Tyrol, History, Literature, Neu-Latein, Tirol, Literatur, Geschichte
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Vorwort 9
- Epochenbild (Josef Riedmann) 21
- Ăśberblick (Gabriela Kompatscher) 31
- Epochenbild (Lav Šubarić) 55
- Dichtung (Martin Korenjak) 66
- Rhetorik und Beredsamkeit (Martin Korenjak) 95
- Geschichtsschreibung (Josef Riedmann/Florian Schaffenrath) 105
- Biographie (Wolfgang Kofler) 123
- Brief (Christina Antenhofer/Lukas Oberrauch) 130
- Musik (Lukas Oberrauch) 143
- Kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 147
- Philosophie (Stefan Tilg) 167
- Medizin und Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 189
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 198
- Das 16. Jh. bis zum Tod Erzherzog Ferdinands II. von Tirol (1595) Epochenbild (Karlheinz Töchterle) 215
- Dichtung (Wolfgang Kofler/Martin Korenjak) 225
- Theater (Stefan Tilg) 266
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 282
- Geschichtsschreibung (Florian Schaffenrath) 307
- Brief (Martin Korenjak) 335
- Theologie (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 342
- Philosophie (Stefan Tilg) 349
- Naturwissenschaft (Lav Šubarić) 355
- Medizin (Lukas Oberrauch) 362
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 378
- Das 17. Jh. bis zum Aussterben der Tiroler Linie der Habsburger (1665) und zur Gründung der Universität (1669) Epochenbild (Stefan Tilg) 385
- Dichtung (Martin Korenjak) 397
- Theater (Stefan Tilg) 436
- Beredsamkeit (Martin Korenjak) 465
- Geschichtsschreibung (Lav Šubarić) 480
- Biographie (Florian Schaffenrath) 505
- Brief (Martin Korenjak) 517
- Theologie und kirchliches Schrifttum (Erika Kustatscher/Martin Korenjak) 525
- Philosophie (Stefan Tilg) 545
- Naturwissenschaft (Martin Korenjak) 555
- Medizin (Lav Šubarić) 564
- Rechtswissenschaft (Christine Lehne) 584
- Farbtafeln 593