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überragt vornehmlich durch wohlthuende Einfachheit, Vertrautheit mit dem Volkston und
Gewandtheit in der Wiedergabe der Mundart Johann Gab r ielSeidl . Seine „ Flinserln"
(Tand, von mittelhochdeutsch vlins, Kies), in der reinen Mundart des V. U. W. W.,
reihen sich den besten gleichzeitigen Dichtungen der Oberösterreicher würdig an; die
komischen Scenen im Dialekte sind harmlose, aber durchdringende Kenntniß des Volks-
lebens beweisende Scherze; der erste Platz dürfte jedoch den prosaischen Erzählungen
zuerkannt werden. Unter diesen wieder scheint uns durch lebendige Schilderung, knappe
Charakteristik, bewegte uud doch einfache Handlung „'s Exami'" (das Examen) die beste:
ein kleiner Knabe, der mir bis zehn zählen kann, schildert ahnungslos dem blinden Groß-
vater, der in angstvoller Erwartung schwebt, wie sein Vater sich kämpfend vor französischen
Marodeuren bergan rettet zu ihnen.
Aber der eigentliche Dichter Niederösterreichs, der seine Mundart schlicht uud wahr
wiedergegeben wie keiner vor und neben ihm, ist vor wenigen Jahren nnbeachtet gestorben
und erst nach seinem Tode ist seinem als Torso Hinterbliebenen Werke die verdiente
Anerkennung geworden. Dieser Mann ist der Piarist Josef Misson aus Mühlbach am
Manhartsberge (1803 bis 1875); seine Dichtung führt den Titel „da Naz, a nieder-
österreichischer Banerubui, geht in d'Fremd". Diese wenigen Worte genügen, den
Manhartsbcrger zu charakterisircu, und in der That ist es die Sprache seiner heimatlichen
Landschaft, des unteren Manhartsviertels, die er mit seltener Meisterschaft handhabt.
Misson hat einige der besten Eigenschaften mit dem größten deutschen Dialectdichter, mit
Fritz Reuter gemein; wie dieser besitzt er in ungewöhnlichem Maße die Herrschaft über
die Sprache des Volkes. Nicht umsoust hat Jakob Grimm gewarnt, daß sich „die schämige
Mundart sträube wider das rauschende Papier". Nuu, wer wie Reuter und Misson nicht
nur mit klarem Blick in die Seele des Volkes geschant, sondern wem überdies die Muse
die seltene und sondere Gabe verliehen, wiederzugeben, was er in diesem Zauberspiegel
erblickt, darf sich au solche Ausgaben wagen! Missons poetische Genrebilder sind von
ergreifender Wahrheit; er besitzt auch Humor — und dennoch ist er gescheitert; denn er
ist ein Jdyllendichter, kein Epiker nnd seinem Gedichte fehlt die Handlung. Wohl ist es
unvollendet geblieben, aber im achten Gesänge ist der Naz', der die Heimat verläßt, noch
immer kaum von der Stelle gerückt. Das ist auch eiu Hauptgrund, weshalb das Gedicht
bei all seinen sonstigen Vorzügen so wenig Leser gefunden. Aber der Ruhm des Dichters,
der am treuesteu heimische Sprache uud Art wiedergegeben, bleibt Misson unbestritten.
Ist er selbst nicht so gekannt, wie es sich ziemte, so hat der Fortsetzer, den er
gefunden, in noch weniger weite Kreise zn dringen vermocht, und doch ist er ein würdiger
Epigone, Missons Landsmann, Schüler und Ordensbruder Josef S t robl (1845 bis
1877). Er hat eine Fortsetzung des „Naz" versucht, von der ziemlich umfangreiche Proben
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Wien und Niederösterreich, 2. Abteilung: Niederösterreich, Band 4
- Titel
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Untertitel
- Wien und Niederösterreich, 2. Abteilung: Niederösterreich
- Band
- 4
- Herausgeber
- Erzherzog Rudolf
- Verlag
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Ort
- Wien
- Datum
- 1888
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 17.75 x 26.17 cm
- Seiten
- 380
- Schlagwörter
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Kategorien
- Kronprinzenwerk deutsch
Inhaltsverzeichnis
- Landschaftliche Schilderungen aus Niederösterreich 3
- Zur Vorgeschichte Niederösterreichs 123
- Zur Geschichte Niederösterreichs 145
- Zur Volkskunde Niederösterreichs 183
- Die Architektur in Niederösterreich 263
- Burgen und Wohnstätten in Niederösterreich 287
- Malerei und Plastik in Niederösterreich 305
- Volkswirtschaftliches Leben in Niederösterreich 317