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Leere Tempel, volle Livestreams in China
Yifan Li
Im Dezember 2019 trat eine unbekannte Lungenentzündung in Wuhan,
einer Millionenstadt in China, auf. Da Lungenerkrankungen im Winter
häufig vorkommen, achteten nur wenige Chines:innen darauf. Am 30. De-
zember 2019 tauchten jedoch Nachrichten auf sozialen Medien auf, die da-
vor warnten, dass die Erkrankung vom SARS-Coronavirus verursacht sei.
Dies wurde von der Regierung als Gerücht bezeichnet. Anfang Januar
2020 kehrten hunderttausende Angestellte und Wanderarbeiter:innen aus
Wuhan per Bahn und Flugzeug in ihre Heimat zurück, um das Neujahrs-
fest mit ihren Familien zu verbringen. Manche von ihnen wussten nicht,
dass sie sich bereits angesteckt hatten. Mitte des Monats wurde in zahlrei-
chen Städten von Krankheitsfällen berichtet, allerdings wurde die Krank-
heit von vielen als normale Grippe gedeutet. Am 20. Januar warnte Zhong
Nanshan, ein für seine Bewältigung des SARS-Ausbruchs im Jahr 2003 be-
kannter Experte, dass die Pneumonie übertragbarer sei, als zuvor ange-
nommen worden war. Die Leute (vor allem junge Menschen) gerieten in
Panik. Mundschutz-Masken waren in wenigen Stunden ausverkau#. Zwei
Tage später wurden Wuhan sowie andere Städte in der Provinz Hubei ab-
gesperrt und so die Zentren des Virus-Ausbruchs in China unter Quarantä-
ne gestellt. Am 24. Januar, einen Tag vor dem chinesischen Neujahrsfest,
sagten alle religiösen Institutionen in Shanghai ihre größte Feier ab und
verboten den Zugang zu Gebäuden.
Am 1. März 2020 verö!entlichte der Jadebuddha-Tempel 㜠ዲ㵁ᾑ in
Shanghai einen Beitrag auf seinem WeChat-Kanal, in dem eine Sutra-Le-
sung gezeigt wurde. Abbildung 1 stammt aus dieser Dokumentation:
Mundschutz tragende Mönche führen das Ritual in der Haupthalle des
Tempels durch, während die Gläubigen, die normalerweise den Saal füllen
und wegen des Verbots abwesend sind, dasselbe Sutra, gemäß Zeitplan des
Heiligtums, zu Hause rezitieren. Damit verlegt der Tempel seinen heiligen
Raum ins Internet.
In meinem Beitrag möchte ich die Frage vertiefen, wie diese virtuellen
religiösen Räume in der Pandemie entstanden sind und welche sozialen
Erwartungen sie durch Online-Rituale erfüllen (wollten).
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https://doi.org/10.5771/9783748922216, am 10.02.2021, 12:13:48
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
Religion, Medien und die Corona-Pandemie
Paradoxien einer Krise
- Titel
- Religion, Medien und die Corona-Pandemie
- Untertitel
- Paradoxien einer Krise
- Autor
- Daria Pezzoli-Olgiati
- Herausgeber
- Anna-Katharina Höpflinger
- Verlag
- Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-2221-6
- Abmessungen
- 15.3 x 22.7 cm
- Seiten
- 134
- Kategorien
- Coronavirus
- Medien
Inhaltsverzeichnis
- Einführung 7
- Fahren auf Sicht im Nebel des notwendig Undeutlichen 11
- Wenn jetzt alles anders ist, wie ist es denn immer gewesen? 13
- «Wir sitzen zu Hause und draußen geht die Welt unter» 17
- Gemeinscha!en in Isolation 23
- Leere Tempel, volle Livestreams in China 27
- Digitale Au!ührungen des Ausnahmezustands 35
- Ambivalente Deutungen des Virus in Facebook-Communities 41
- Krise und Solidarität im öffentlichen Raum 49
- Solidarität zwischen Kirche und Suppenküche 51
- Leid und Hoffnung einer Nation im Grati 59
- Unterhaltung in der Pandemie 67
- Lieder zwischen Krisenbewältigung und Entertainment 69
- Witz und Religionskritik in Internet-Memes 77
- Der Tod als mediale Inszenierung 85
- Einsamer Abschied vor aller Welt 87
- Das Virus ist unsichtbar, der Tod ganz konkret 93
- Wirklichkeitsdeutung zwischen Fakten und Fake News 101
- Erlösung durch Kapitalismus 103
- Die Verschwörung(en) hinter der Pandemie 111
- Ausblicke ins Ungewisse 119
- Die Pandemie als Ritual – ein Gedankenspiel 121
- Prophetische Metaphern der postpandemischen Zeit 127
- Abbildungsverzeichnis 133