Seite - 14 - in Zipper und sein Vater
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gerade dort einsetzt, wenn es den andern schmerzt; ein Wort, das an eine
längstvergangene wüste Szene erinnert und das, wieder hervorgeholt,
vernarbte Wunden aufreißt; eine Art, einander anzuschauen, die beide
erstarren läßt; plötzliche Bewegungen, die ihre umnebelte, eingeschlafene
Feindschaft jäh erwecken, wie abgeschossene Raketen eine dunkle Situation
im Krieg erhellen und seine ganze Schrecklichkeit.
So war es mit dem Ehepaar Zipper. Das Angesicht der Frau Zipper wird
mir immer in Erinnerung bleiben. Es lag hinter einem feuchten Schleier. Es
war, als lägen ihre Tränen, immer bereit, vergossen zu werden, schon über
ihrem Augapfel. Sie trug lange blaue Schürzen, die sie einer
Krankenschwester zweiter Klasse ähnlich machten. Auf sanften Pantoffeln
ging sie durchs Leben. Niemals sprach sie mit lauter Stimme. Oft seufzte sie
und schneuzte sich. Wenn sie ihr Taschentuch vors Gesicht führte, sah man
ihre Hände, trockene harte Hände, an denen die Finger unverhältnismäßig
stark waren, wie künstlichangesetzt an eine viel zu schwache Hand. Zog sie
manchmal, an Festtagen, ihr schwarzes Flitterkleid an, so sah sie noch gelber
aus als gewöhnlich, sie hatte etwas Erfrorenes, als hätte man sie aus einem
Eiskasten genommen. Steif – nicht vor Stolz, sondern vor Ergebenheit,
Ohnmacht, Unglück und Trauer –, steif saß sie in einem Sessel. Ihr schütteres
farbloses Haar hatte sie in die weite hohe Stirn hineingekämmt, es war eine
Art erzwungener Verschönerung, eine Maßnahme gegen den Willen der Frau
Zipper, als hätte man sie frisiert, während sie in einer tiefen Ohnmacht lag,
und als hätte sie nicht einen Moment lang in den Spiegel gesehen. Nur der
Mund der Frau Zipper, der heute eingefallen war und verbissen aussah,
verriet, wenn sie ihn zu einem seltenen Lächeln öffnete, einen längst
erstorbenen Reiz, eine verschwundene, schöne, runde Fülle, und im Kinn
erschien noch für den Bruchteil einer Sekunde ein sanftes Grübchen – nein!
kein Grübchen mehr! – sondern eine Erinnerung an ein Grübchen. Ihr
Lächeln, ihr seltenes Lächeln, war wie eine sanfte, verstohlene Totenfeier für
ihre Jugend. In ihren blassen feuchten Augen entzündete sich ein schwaches
fernes Licht, das schnell wieder erlosch, wie das Blinkfeuer eines sehr weiten
Leuchtturmes.
Niemals lächelte sie in Anwesenheit ihres Mannes. Niemals beteiligte sie
sich an seinen kleinen Späßen, niemals ging sie auf ein Gespräch ein, das er
manchmal anzuknüpfen versuchte. Auf seine Fragen antwortete sie mit ja
oder nein. Wie mußte sie ihn hassen, verachten vielleicht! Er mochte ihren
Haß hinter ihrer Stille fühlen, wie man glattes, scharfes Eis unter der
Schneedecke spürt. Sie reizte ihn. Weil er nicht klug war, begann er, sie zu
verspotten. Sooft Cäsar nach einem Sturm verschwunden war, trat sie mit
einem Seufzer aus der Küche. Dann geschah es, daß der alte Zipper mit einer
frohlockenden Stimme sagte: »Hat dir dein lieber Sohn gesagt, wohin er sich
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110