Seite - 33 - in Zipper und sein Vater
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Wir sahen uns an, Arnold und ich, und begannen, eine Wurst zu essen.
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Zwei Monate später verlor Cäsar sein linkes Bein.
Der alte Zipper teilte diese Begebenheit Arnold mit: »Er bekommt eine
tadellose Prothese!« schrieb der alte Zipper. Und die Mutter schrieb nur eine
einzige Zeile dazu. Man sah, wie ihre Hand gezittert hatte. Ich erinnere mich
deutlich an ihre Schrift. Die Buchstaben lagen wie Bündel dünner Drähte
über- und nebeneinander. »Bleibe ganz und gesund!« schrieb die Frau Zipper.
Arnold aber bekam einen Steckschuß und Urlaub und die Leutnantscharge.
Was gab es Schöneres für den alten Zipper. Er ließ sich photographieren als
Feldwebel, der Sohn als Leutnant daneben. Arnold schickte mir die
Photographie. Da stand der alte Zipper, hielt seine Hand auf der Schulter des
Leutnants und blickte starr geradeaus. Immerhin war er älter geworden. Seine
Wangen hingen schlaff an den Gesichtsknochen, und auf der Hand, die des
Sohnes Schulter hielt, sah man Krampfadern. Arnold schrieb, es ginge jetzt
nicht mehr so schlecht. Die Mutter beziehe Geld für alle drei eingerückten
Männer. Cäsar würde jetzt versorgt werden, weil er ja ein Bein verloren habe.
Ein wenig später bekam ich Urlaub. Da sah ich, wie die Frau Zipper um
Mitternacht mit einem Schemel und einem halbgestrickten Strumpf, mit Brille
und Topf und Markttasche vor den Laden ging, um am Morgen Fleisch und
Milch zu holen. Immer noch sprach Zipper zu seiner Frau in der dritten
Person. Dennoch stand er um drei Uhr morgens auf, um seine Frau abzulösen.
Cäsar hätte als Invalider, ohne zu warten, alle Nahrungsmittel bekommen
können. Aber er kam nur einmal in der Woche aus dem Spital nach Hause, am
Samstagnachmittag, humpelte zur Lade in der Kommode, wo die Mutter ihre
Geldbörse verbarg, leerte sie und begab sich ins Wirtshaus.
Er war finster geworden, seine kurze Stirn schien noch kürzer zu sein, sie
bestand nur noch aus einem kleinen Stückchen tausendfach zerknitterter Haut.
Immer hing ein trauriges, dumpfes Lächeln in seinen Mundwinkeln, es war
wie das Abzeichen eines selbstgefälligen Stumpfsinns, wie der Anfang eines
Fluches und wie der Beginn einer Verwandlung aus dem Menschen zum Tier.
Er bekam eine Prothese, die nicht paßte, er warf sie weg. Er zerbrach eine
Krücke nach der andern. Wenn die Mutter ihn im Spital besuchte, versteckte
er sich im Klosett. Man schickte ihn ins Irrenhaus. Er bekam einen Wutanfall,
wurde in die Tobsuchtszelle gesperrt, weinte, wurde sanft, sprach nichts mehr.
Er begann Zeitungspapier zu essen. Die Irrenhäuser füllten sich, man konnte
ihn nicht mehr behalten, man schlug den Zippers vor, ihn nach Hause zu
nehmen.
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110