Seite - 39 - in Zipper und sein Vater
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Kaffeehaus so zu treten, als suchte er einen Geschäftsfreund; zu warten, bis
der Geschäftsfreund mit seinem Spiel fertig war – und zwar so zu warten, daß
man ihn weder für einen Unerwünschten noch für einen Zudringlichen noch
für einen Bemitleidenswerten halten durfte. Er mußte die Fähigkeit
vortäuschen, jeden Augenblick einen Kaffee zu bestellen, und jene Freiheit
der Haltung, die dem Kellner zu verstehen gibt, daß man nur deshalb nichts
bestellt, weil man gesättigt und ganz ohne Wunsch ist.
Man wurde müde, während man stand, durfte sich aber nicht setzen, weil
man nicht einen Tisch einnehmen konnte, ohne zu »konsumieren«. Es gab
nichts Schlimmeres für Zipper als diese Viertel- und halben Stunden, in denen
er wartete, im Zwielicht des Spielsaals, in dem die gelben Lichter schon
entzündet waren, obwohl aus dem vorderen Raum noch die Sonne eindrang.
(Aber die Spieler brauchten diesen vorgetäuschten Abend, ebenso wie die
Besucher der Freudenhäuser herabgelassene Jalousien.) Zipper wartete. Er
ging hin und zurück. Er blieb stehen und blätterte in einer Zeitung und gab
sich den Anschein, als hätte er gerade eine Notiz gefunden, die ihn besonders
interessierte. Dabei durfte er den Mann, auf den er wartete, nicht aus dem
Auge lassen. Ja, er mußte von Zeit zu Zeit versuchen, seine Anwesenheit dem
Käufer in Erinnerung zu bringen. Gelang es ihm endlich und stand der
Ersehnte auf, so war Zippers Energie schon verbraucht, die Energie, deren er
bedurft hätte, um den Widerspenstigen von der Notwendigkeit eines Kaufs zu
überzeugen. Hätte Arnold doch die harmlose, optimistische Freude am
Gespräch gehabt, die seinen Vater auszeichnete! Aber der junge Zipper hatte
ein schwereres Blut als der alte, ein klügeres Gehirn und eine zartere Haut.
Wenn es Arnold trotzdem gelang, so viel zu verdienen, daß er jeden Abend
ins Kaffeehaus gehen konnte – in ein anderes Kaffeehaus, wo keine Kunden
saßen –, daß er Zigaretten rauchte und mit der Straßenbahn manchmal die
freie Natur erreichte, so verdankte er es dem Umstand, daß viele seiner
früheren Kameraden unter den Geschäftsleuten waren, die für ihn in Betracht
kamen. Diese Kameraden, Kaufleute aus Zufall, hatten eine leichtere Hand,
ein menschliches Herz und eine gewisse Solidarität mit Zipper. Sie gaben ihm
zu verdienen – wie man sagt. Nachdem aber schon all seine Bekannten an der
Reihe gewesen waren, mußte Zipper eine neue Beschäftigung suchen.
In der Familie Zipper hatte die Hoffnung Platz gegriffen, daß Arnold nach
Brasilien kommen könnte, zu des alten Zippers Bruder, der seit dem Krieg
nichts geschrieben hatte. Manche, die keinen Onkel drüben wußten, machten
sich auf den Weg. Die Heimat war so eng geworden, daß die ältesten
Menschen, die nie ihren Bezirk verlassen hatten, Sehnsucht bekamen, in eine
sehr ferne Welt auszuwandern und die nahe auszutilgen aus der Erinnerung,
aus dem Herzen, aus dem Leben. Arnold schien es der einzige Ausweg. Wenn
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110