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Karbidlampen, die um jene Zeit das Gas und die Elektrizität ersetzten und die
aussahen wie gezähmte und zum Nutzen der Menschheit verwendete
Irrlichter. Sie sangen übrigens – und auch diese Musik war Arnold
unentbehrlich. Sie flackerten, wenn sie am Ende ihrer Kräfte waren, und
warfen zackige Schatten um die Tische. Dann stieg ein Kellner auf Stühle
und hauchte ihnen mit einem Blasebalg neues Leben ein. Fliegen summten,
Karten klatschten, Dominosteine klapperten, Zeitungen rauschten,
Schachfiguren fielen mit hartem Schlag auf Bretter, Billardkugeln rollten
dumpf über gepolstertes Holz, Gläser klirrten, Löffel klangen, Schuhe
schlurften, Stimmen murmelten, Wasser tropfte sentimental aus einem fernen,
wie geträumten Hahn, der sich niemals schloß – und über allem sangen die
Karbidlampen. Manchmal glich das Kaffeehaus einem Lager überwinternder
Nomaden, manchmal einem bürgerlichen Speisezimmer, manchmal einem
großen Wartesaal in einem Palast und manchmal einem warmen Himmel für
Erfrorene. Denn es war warm, es war eine animalische Wärme, unterstützt
von glimmenden Kohlen in drei breiten Öfen, durch deren Gitter es rötlich
schimmerte und die aussahen wie Eingänge zu einer Hölle, die nichts
Schreckliches hat. Erst wenn Arnold dieses Kaffeehaus betrat, war er seinem
Tag endgültig entronnen. Hier erst begann seine Freiheit. Denn obwohl die
Drehtür sich unaufhörlich bewegte, konnte Arnold doch sicher sein, in diesem
Kaffeehaus keinen Menschen zu finden, der ihn an seine Arbeit oder an eine
Arbeit überhaupt erinnerte. Nicht an seine Arbeit, nicht an das Viertel, aus
dem er kam, nicht an die Freunde seines Vaters konnte hier irgend etwas
gemahnen. Nur dünne, gelbe Vorhänge verhüllten die Straße an den Fenstern.
Aber diese Vorhänge waren so dicht, daß man glauben konnte, selbst Steine
und Schüsse würden an ihnen wirkungslos zurückprallen. Diese Welt hatte
nichts mit der bitteren und nüchternen des Tages zu tun. Auch wenn die
Sonne noch am Himmel stand, hier hatte sie nichts zu suchen.
Nur ein Theater oder ein Konzert konnte Arnold veranlassen, nicht etwa
überhaupt einen Abend das Kaffeehaus nicht zu betreten, sondern um elf Uhr
zu kommen statt wie gewöhnlich um sieben Uhr.
Die Liebe zum Theater hatte Arnold, wie manches andere, vom alten
Zipper geerbt. War aber der alte Zipper mit Vorliebe zu Operetten gegangen,
so zog der junge der Unterhaltung die Kunst vor. Hatte der alte Zipper seine
Freikarten den Beziehungen zum Kassierer zu verdanken gehabt, so bekam
der junge die Plätze unmittelbar vom Regisseur. Hatte sich derAlte für den
Zauber der Kulissen interessiert, für den Mechanismus der Bühne, so
verfolgte der Junge die Bemühungen der Regie und der Schauspieler.
Wenn Arnold mit Leidenschaft das Theater besuchte, so tat er es nicht
etwa, weil er sich vorstellte, er selbst stünde auf der Bühne. Er war nicht so
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110