Seite - 58 - in Zipper und sein Vater
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tote Fliege klebte hier und dort in einer Ecke, das Licht war aus unbekannten
Gründen grünlichgrau, die Wohnung erinnerte an eine Art Meeresgrund, an
eine Art Bassin, an ein Aquarium. Der Abend fiel früher in diese Wohnung,
als er von Rechts und Natur wegen sollte. Waren die Lampen angezündet, so
brannten sie in einem grauen Nebel, man sah ihren Kern nicht, sie erinnerten
an Mitternachtssonnen. Der alte Zipper schneuzte sich fortwährend. Er hatte
einen Rachenkatarrh seit seiner ersten Jugendzeit. Ich erinnere mich, daß er
Jahr für Jahr davon gesprochen hatte, nach Kudowa zu fahren. Da aber auch
sein Magen nicht ordentlich arbeitete, schwankte der alte Zipper, ob er nicht
doch lieber nach Karlsbad fahren sollte. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß er
nirgends hinfuhr, weil er kein Geld besaß. Er bildete sich ein, er bliebe zu
Hause, weil er zwei Übel habe, von denen jedes einen anderen Kurort
verlange. Er krächzte, räusperte sich, trank Sliwowitz und hustete.
Als ich diesmal die Wohnung der Zippers betrat, sah ich, daß der Alte den
Schal seiner Frau trug. Er war ein bißchen krank, er konnte seinen
bescheidenen Geschäften nicht mehr nachgehen. Ein Glück, daß Wandl heil
aus dem Krieg zurückgekommen war und die Miete für den »Salon« bezahlte.
Sie war jetzt Zippers einzige Einnahme. Er traktierte mich mit
Weichselschnaps und Tee. Er wurde warm, er sprach viel, er war sogar
optimistisch. Hörte man ihm zu, so konnte man glauben, er ginge einem
glücklichen, sorglosen Greisenalter entgegen. Arnold war gut versorgt.
Während eine Million junger Männer brotlos umherirrte, saß er an einer
Stelle, auf der man wachsen und gedeihen konnte, eine Pflanze in einem gut
placierten Blumentopf. Nichts konnte mehr in seinen Weg kommen. Er war
nicht einmal nur Vertragsbeamter. Er war ausnahmsweise schon mit Dekret
angestellt. Er war auch schon seit einigen Tagen nicht zu Hause gewesen.
Um ihn nicht unruhig zu machen, log ich, daß ich Arnold erst vorgestern
im Kaffeehaus gesehen hätte. Warum vorgestern? – Es schien mir, daß ich
weniger log, wenn ich eine vorgetäuschte Unterredung vor einer längeren Zeit
stattfinden ließ.
Ich wußte aber schon, daß Arnold etwas zugestoßen war. Oh, kein
Unglück, keine Katastrophe! Denn in dem Leben der Zippers hatten die
Schicksale keine ursprüngliche und plötzliche Kraft. Sie hatten die langsame,
langweilige Tätigkeit der Bohrwürmer. An dem grauen Himmel, der sich über
den Zippers wölbte, entluden sich keine Gewitter. Sie zogen sich nur an ihm
zusammen. So eine zaghafte Wolke fühlte ich jetzt herannahen. Ich sprach
aber nicht von ihr. Ich tat so, als wäre es heller Sonnenschein.
An diesem Abend wollte ich Arnold im Kaffeehaus erwarten.
Es schien mir, daß es nicht mehr so aussah wie immer. Arnold Zipper
fehlte. Alle, die sich so oft im stillen gefragt hatten: Was macht eigentlich
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110