Seite - 66 - in Zipper und sein Vater
Bild der Seite - 66 -
Text der Seite - 66 -
daß Arnold so dachte wie er selbst. Konnte es etwas anderes sein als die
Aussichtslosigkeit, jemals nach Verdienst behandelt zu werden, was seinen
Sohn veranlaßte, eine so gute Stellung aufzugeben? – Nein! – Also hatte
Arnold recht.
Eine Frau, in die Arnold sich verlieben konnte, mußte eine
außergewöhnliche Frau sein. Und der alte Zipper brannte danach, sie zu
sehen. Er erinnerte sich ihrer noch aus dem schlesischen Bad und war aus
dem Gedächtnis verliebt.
»Nicht wahr«, sagte er, »sie ist blond?« Denn die Blonden gefielen ihm.
»Nein«, erwiderte Arnold, »sie ist braun.« Er wollte nicht schwarz sagen.
»Aber ich erinnere mich doch deutlich, daß sie helle Augen hat?«
»Ja«, sagte Arnold, um nachzugeben, »wenn sie lacht, werden ihre Augen
allerdings hell.«
»Sie muß aber doch schon groß und stark geworden sein?«
»Sie ist klein und zart geblieben.«
»So, so«, sagte Zipper, »die Mode will es heutzutage, daß die Frauen zart
sind. Will sie denn wirklich eine Schauspielerin werden?«
»Ja, warum denn nicht?«
»Da könnt ihr aber doch gar nicht heiraten?«
»Das muß ja nicht sein! Wer spricht denn vom Heiraten?«
»Freilich, das muß nicht sein!« bekräftigte der alte Zipper, der schon immer
für die Lockerung der Sitten gewesen war. Er war kein Reaktionär, er ging
mit der Zeit.
Einigemal kam Fräulein Erna in das Haus der Zippers. Weshalb denn nicht?
Sie stammte aus einem ähnlichen Haus, sie war im Begriff, es zu verlassen.
Sie haßte die täppische Zärtlichkeit ihres Vaters, den kleinbürgerlichen
Hochmut ihrer Mutter, ihre stete Empfindlichkeit, die Szenen, die sie dem
Mann machte, wenn er einmal mit zu geringen Geschenken von einer Reise
kam, ihre wachsame Furcht, man könnte ihr gegenüber nicht »aufmerksam«
genug sein.
Wie aus diesem Haus am schnellsten fliehen? – Fräulein Erna erfand die
»innere Berufung«, der kein gutmütiger Vater und keine eitle Mutter
widerstehen können. Und es zeigte sich in der Folge, daß sie gescheit genug
war, um sogar Talent zu haben. Nichts ist unmöglich.
Schon führte sie das »eigene Leben«, das sie sich immer gewünscht hatte.
66
zurück zum
Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110