Seite - 84 - in Zipper und sein Vater
Bild der Seite - 84 -
Text der Seite - 84 -
wüßte, daß sein Sohn glücklich sei, so mache er sich nichts aus der
Schweigsamkeit vielbeschäftigter Menschen. Denn er kenne das, er wisse,
was intensive Arbeit heißt.
Ich gab Arnold den Brief zurück. Er faltete ihn nach seiner Gewohnheit
viermal und legte ihn in die Brieftasche. Dann schwiegen wir einige Minuten.
Plötzlich sagte Arnold: »Die Väter ahnen doch, wie es den Söhnen geht.
Wenn er wüßte, wie meine Ehe aussieht!«
Ich versuchte einen Scherz: »Was willst du? Ihr vertragt euch doch?«
»Mach keine Witze«, sagte Arnold. »Ich war nie im Leben glücklich. Ich
war noch nie so unglücklich wie jetzt. Wenn du wüßtest, wie es in diesen
Jahren zugegangen ist. Schon in Breslau fing es an. Wir wohnten im Hotel, in
zwei Zimmern, die aneinander grenzten. Die Verbindungstür ließ der
Hausdiener offen, als wir ankamen und er das Gepäck abstellte. Dann
schickte sie mich hinaus. Sie zog sich um. Dann aßen wir. ›Ich will allein
schlafen‹, sagte sie. ›Selbstverständlich‹, sagte ich.
Ich ging in mein Zimmer, ich las. Ich las ein Stück, in dem sie spielen
sollte, machte Anmerkungen, stellte sie mir genau vor, ich liebte sie damals –
nicht so wie heute. Ich liebte sie ganz kindisch, wahnsinnig, ich wollte jeden
Augenblick mein Leben hingeben, und es schien mir noch zuwenig, ein
einziges Leben. Ich träumte davon, daß ich sterbe, damit sie sich freue. Kurz:
es war verrückt. Ich las also, auf einmal höre ich, wie sie an der Tür ganz leise
den Riegel vorschiebt. Hätte sie es nicht vorsichtig getan! Aber sie wollte
nicht, daß ich es höre – und siehst du, das war der große Schmerz.
Die ganze Nacht schlief ich nicht. Ich fand meinen Trost. Ich dachte, sie
hätte den Riegel so leise vorgeschoben, um mich nicht zu stören. Sie wußte ja
nicht, ob ich nicht schon schlafe. Ich klammerte mich so an diesen Trost, daß
ich fürchtete einzuschlafen. Ich war glücklich und wach vor Glück.
Aber am Morgen klopfte ich, sie sagte: ›Sofort‹, und nun – nun schob sie
den Riegel wieder ganz sachte zurück. Ich war so froh aufgestanden. Ich fand
es ganz natürlich, daß wir nicht zusammen schliefen. Aber jetzt ging die Tür
auf, ich haßte Erna plötzlich, sie muß es gesehen haben. Aber sie ist nie
aufgeregt, immer gleichgültig, so viel klüger als ich und so reizend. Nicht?«
»Es tut mir leid, daß du verliebt bist!« sagte ich.
»Du magst sie nicht«, sagte Arnold, »ich weiß es schon lange. Du hältst sie
für böse. Wenn man sie nicht liebt, kann man glauben, daß sie böse ist. Aber
nur ich kenne sie. Niemand kennt sie.«
Nach einer Weile erzählte er weiter:
84
zurück zum
Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110