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dem Richter durch verständnisvolles Augenzwinkern über die Naivität des
Anwalts lustig zu machen schien. Der Verteidiger setzte sich wieder,
einigermaßen verwirrt, und erkundigte sich beim alten Zipper, ob er etwa
einem Irrtum unterlegen sei. Und breit und umständlich begann der
Angeklagte, seinem Anwalt die Materie flüsternd auseinanderzusetzen.
Dieser, der sie vermutlich schon gekannt und nur versucht hatte, sie durch
eine besonders nuancierte Darstellung für seine Zwecke brauchbar zu
machen, erhob sich wiederum. Sobald er aber mehr als einen Satz gesprochen
hatte, begann der alte Zipper ihn wieder durch ein immer heftigeres
Kopfschütteln zu dementieren. So, daß schließlich der Richter den Alten
selbst aufforderte zu sprechen. Nun begann Zipper Wort für Wort zu
wiederholen, was sein Anwalt gesagt hatte. Denn auch er war klug genug, die
Sachlage günstiger zu deuten, als sie etwa das Gericht oder der Vertreter der
Anklage auslegen mußten. Aber außerstande zu schweigen, während man
seine Angelegenheit besprach, und leicht gekränkt über die stumme Rolle, zu
der ihn sein Verteidiger verurteilte, leugnete der alte Zipper, wenn er saß, die
Tatsachen, die er selbst erzählte, wenn er aufstand. Und sooft ihn, während er
mit dem Kopf verneinte, der Richter fragte: »Also, Herr Zipper, geben Sie zu
–«, erhob er sich, um zur allgemeinen Überraschung zu erklären:
»Keineswegs. Ich stimme vollkommen mit meinem Herrn Verteidiger
überein.« Hierauf machte Zipper eine Verbeugung vor dem Gericht, eine
leichtere vor seinem Anwalt, setzte sich, wandte mir den Kopf zu und
lächelte.
Es schien, daß infolge dieser ungewöhnlichen Gebräuche des Angeklagten
der Prozeß noch verwickelter werden könnte. Infolgedessen machte sich auf
den Gesichtern aller Beteiligten eine leise Ermattung bemerkbar. Nur das
Gesicht des Alten war strahlend, frisch, er sah aus wie aus einem Bad
gestiegen, ich zweifle, ob er einen solchen Triumph gezeigt, wenn er den
Prozeß gewonnen hätte. Der Verteidiger, der die allgemeine Müdigkeit für
seine verlorene Sache ausnutzen wollte, erhob den Antrag auf unbestimmte
Vertagung, auf die Vorladung neuer Zeugen und erklärte, neue »Unterlagen«
beschaffen zu wollen. Das Gericht vernahm diesen Antrag mit Freude und
gab ihm statt. Zipper machte eine tiefe Verbeugung, schloß mit einem
schnarrenden Geräusch die Aktentasche und verließ den Saal mit so
gemessener Langsamkeit, den Zylinder in der bereits behandschuhten
Rechten, daß sich der Gerichtsdiener, wahrscheinlich ohne es zu wissen, vor
ihm verneigte wie vor einem Staatsanwalt.
Ich hatte erwartet, daß der Herr Zipper mit mir über den Prozeß sprechen
würde. Er aber begrüßte mich mit der Frage: »Ist Arnold schon verreist?«
Und als ich bejahte, sagte Zipper: »Dann werde ich ihm das Geld schicken.
Ich werde mir bei meinem Rechtsanwalt den Vorschuß zurückgeben lassen.
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110