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»Was macht Erna?«
»Es geht immer besser. Sie nimmt zu und sorgt schon wieder fürs
Magerwerden. Sie ist entschlossen, wieder zu spielen.
Ich glaube aber nicht daran. – – Sie ist mir übrigens ganz gleichgültig.«
»Gleichgültig?«
»Ja, warum nicht? Ich bin nicht verliebt. Wir leben wie ein altes Ehepaar.
Ich bin nur zu faul, um mich von ihr zu trennen. Ich habe mich schon so daran
gewöhnt, an diesen Spielsaal, an den täglichen Autocar nach Nizza und
zurück, an Erna, die beim Fenster sitzt oder am Wasser. Ich lebe nicht
schlecht.«
Ich fuhr weg, Arnold versprach mir zu schreiben. Er schrieb nicht mehr in
den nächsten Monaten.
Einmal las ich in einer Zeitung, daß Erna wieder zum Film zurückgekehrt
sei. Sie werde nach Amerika gehen.
Einige Monate später sah ich einen amerikanischen Film, in dem sie
spielte. Es war ein »Spielfilm«, wie die technische Bezeichnung lautet. Erna
war eine Frau in reifen Jahren, Rivalin einer Sechzehnjährigen in dem Kampf
um einen Mann in den Vierzigern. Die Sechzehnjährige war ihre Nichte.
Diese hatte die meisten Chancen, weshalb Erna Sympathien gewann. Sie
siegte am Schluß. Sie hatte klug, aufrichtig und überlegen zu sein, ein wenig
hart, voll bitterer Kenntnis des Lebens, skeptisch in bezug auf Männer, aber
mit einer genügend starken Quantität Herz begabt, um in der Einsamkeit
traurig zu werden; jedoch wieder nicht so sentimental, daß sie etwa geweint
hätte. Man sollte vielmehr wissen, daß jede andere an ihrer Stelle geweint
hätte. Sie aber war von jenen, welche die Tränen, wie man sagt, tapfer
verschlucken. Im Leben wäre sie freilich von der Sechzehnjährigen verdrängt
worden. Denn das Leben ist gerecht und sparsam mit Erfolgen gegen jene, die
gezeigt haben, daß sie auch ohne äußeres Glück zu bestehen wissen. Die
besondere Filmgerechtigkeit der Vereinigten Staaten aber krönte die
Verdienste Ernas.
Ich konnte noch erkennen, wie sie leise hinkte. Das Publikum merkte es
gewiß nicht. Wahrscheinlich, dachte ich, wird sie in dem zauberhaften
Hollywood eine neue Hüfte aus Platin oder auch aus Alabaster bekommen,
damit das schwache Bein in einer zuverlässigen Wurzel hafte. Was konnte
man nicht alles in Amerika.
Es tat mir leid, daß ich nicht sehen konnte, wie sie drüben ihre Karriere
arrangiert hatte. Dieser Film, den ich jetzt sah, gab mir nur eine ferne Ahnung
von allen Experimenten, die ihm vorangegangen waren.
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Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110