Seite - 105 - in Zipper und sein Vater
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fühlt sich aber dennoch glücklich innerhalb des beschränkten Himmelsrunds,
das über ein paar Jahrzehnte menschlichen Lebens gestülpt ist, und will am
liebsten nichts wissen von der Geringfügigkeit, der Bedeutungslosigkeit eines
Worts, das man spricht, einer Handlung, die man begeht, eines Schmerzes,
den man erleidet. Es war, wenn man mit P. sprach, als blickte man in die
Milchstraße und erlebte an hunderttausend Sonnen und an Millionen Planeten
das Schicksal, das unserer Sonne und unserer Erde einmal beschieden ist.
Seine Unerbittlichkeit war nicht hart und nicht grausam, denn man fühlte, daß
sie notwendig war. Aber man mußte wahrscheinlich sehr alt geworden sein,
um mit P. überhaupt sprechen zu können.
P. hatte noch niemals diese Stadt verlassen. Er war krank, er war auch nicht
in den Krieg gegangen, er wartete auf den Tod. Da es feststand, daß er sterben
würde, wunderte man sich immer darüber, daß er noch lebte. Manche nahmen
es ihm übel, daß er sein Wort nicht hielt. Vielleicht hatten sie Angst vor ihm
wie ich.
Ich hätte jedenfalls nicht gedacht, daß er den alten Zipper überleben würde.
Denn obwohl Zipper weit älter war, so schien er mir doch wegen all seiner
sonderbaren Eigenschaften eine Ewigkeit dauern zu sollen. Es war, als stünde
der alte Zipper nicht im gewöhnlichen Leben, sondern in einer anderen, dem
Verderb und dem Untergang nicht unterworfenen Abteilung des Lebens,
während der junge Eduard P., obwohl schon ein Geist, dennoch als Körper ein
schwächliches Mitglied dieser Welt war, über die der Tod stündlich
ausgeschüttet wird wie Schnee im Winter.
»Ich habe heute in der Zeitung gesehen«, sagte P., »daß der alte Zipper
gestorben ist. Haben Sie ihn gekannt? Er war ein Tartarin eines bestimmten
Wiener Bezirks. Ein Ausbund von liberalem Kleinbürgertum, ein Spießer, den
ich verabscheut hätte, wenn nicht sein konfuser Kopf seine Entschuldigung
gewesen wäre.«
»Wissen Sie vielleicht, wo Arnold ist?«
»Ah, Sie kennen nicht Arnolds Schicksal? Wenn ich mich recht erinnere,
haben Sie immer gesagt, das Leben sei niemalsso inkonsequent wie die
Schriftsteller. Wenn ich mich erinnere, war es der Text Ihrer Predigt im
Kaffeehaus am Abend, in der ›Roten Ecke‹ auf dem Sofa: es sei Aufgabe des
Autors, abzuschreiben, was er sehe. Hab ich mir’s gemerkt? Wenn Sie nun ein
Romanschriftsteller aus der guten alten Schule wären, dann hätten Sie einen
ausgezeichneten Stoff: Arnolds Leben. Sie wissen, daß er mit Erna in Monte
Carlo von täglichen Gewinsten gelebt hat. Ist das nicht romanhaft genug?
Nun, warten Sie! Dieser schlauen Erna (auf die Sie auch einmal
hereingefallen waren, Sie auch) gelingt es, von Nizza aus, wo sie einen
Filmamerikaner kennenlernt, nach Hollywood zu gelangen. Wahrscheinlich
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Buch Zipper und sein Vater"
Zipper und sein Vater
- Titel
- Zipper und sein Vater
- Autor
- Joseph Roth
- Datum
- 1928
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 112
- Schlagwörter
- Roman, Geschichte, Österreich, Wien
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel 1 5
- Kapitel 2 8
- Kapitel 3 13
- Kapitel 4 18
- Kapitel 5 22
- Kapitel 6 25
- Kapitel 7 28
- Kapitel 8 36
- Kapitel 9 42
- Kapitel 10 45
- Kapitel 11 54
- Kapitel 12 62
- Kapitel 13 68
- Kapitel 14 74
- Kapitel 15 77
- Kapitel 16 83
- Kapitel 17 88
- Kapitel 18 94
- Kapitel 19 97
- Kapitel 20 101
- Kapitel 21 104
- Brief des Autors an Arnold Zipper 110