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Irrläufer aus dem All#

In Wien sind einige äußerst kostbare Meteoritenfunde vom Mars zu sehen. Sie geben Auskunft über die lange Geschichte des roten Planeten.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 19./20. Dezember 2015) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Christian Pinter


Die vier berühmten 'Marsianer' im Naturhistorischen Museum.
Die vier berühmten "Marsianer" im Naturhistorischen Museum.
Foto: © Pinter

Das Naturhistorische Museum (NHM) in Wien beherbergt ein außerordentliches Prachtstück - den Meteoriten Tissint. Seine Heimat war einst der Mars. Solche Objekte sind von enormem Wert für die Wissenschaft. Denn bisher hat noch keine Raumsonde Marsgestein zur Erde gebracht. Ein solches Unterfangen wäre technisch höchst kompliziert und extrem teuer. Im konkreten Planungsstadium befindet sich daher keine derartige Mission.

Marsmeteorite stellen sich hingegen selbst zu - und das kostenlos. Erst am Erdboden unterliegen sie Marktbedingungen. Der 909 Gramm schwere Tissint kostete das Museum 400.000 Euro. Er wurde von den Forschern des NHM mit modernsten Verfahren untersucht. Überhaupt besitzt die Wiener Sammlung eine lange Tradition beim Studium von Marsmeteoriten.

Steine vom Himmel#

Am 3. Oktober 1815 stürzte ein Stein im französischen Chassigny herab. Meteoritenfälle wurden damals erst seit wenigen Jahren von der Wissenschaft anerkannt. Vielleicht blieb deshalb nur so wenig Material des ursprünglich wohl vier Kilogramm schweren Objekts erhalten. 99 Gramm gelangten ins kaiserliche Naturalienkabinett in Wien, wo sie von Paul Partsch und später von Wilhelm Haidinger studiert wurden. Beiden war bewusst, wie sehr sich Chassigny von anderen Meteoriten unterschied. Woher er wirklich stammte, ahnten sie freilich nicht.

Als am Morden des 25. August 1865 nahe Shergotty ein knapp fünf Kilo schwerer Stein herunterkam, verblieb das Gros in Britisch-Indien. Kleinere Proben wurden nach London und ins Wiener Naturalienkabinett entsandt. Nach längerer Rivalität hatten sich die Beziehungen zwischen den beiden großen Sammlungen entspannt. Als der Wiener Kurator Gustav Tschermak 1871 ein neues Mineral im Shergotty-Meteoriten fand, taufte er es sogar "Maskelynit" - nach seinem Londoner Fachkollegen Nevil Story-Maskelyne.

Am Vormittag des 28. Juni 1911 sah man Rauchspuren am Himmel über dem ägyptischen Alexandria. In Nakhla ging ein Schauer von mindestens 40 Steinen nieder. Angeblich wurde dabei ein Hund getötet. Proben aller drei klassischen Meteorite - Shergotty, Nakhla und Chassigny - sind bis heute im Meteoritensaal des NHM zu sehen. Sie fungieren als Namensgeber dreier Meteoritengruppen: Shergottite, Nakhlite und Chassignite. Nach deren Anfangsbuchstaben fasst man diese Gruppen gern unter dem Kürzel "SNC" zusammen. Sie unterscheiden sich im Gehalt an Plagioklas, Pyroxen und Olivin.

Generell findet man Meteorite heute vor allem in der Antarktis und in den Wüstengebieten Nordafrikas. Die allermeisten dieser "Außerirdischen" sind gut 4,5 Milliarden Jahre alt und stammen von schmächtigen Kleinplaneten. Die SNC-Meteorite sind hingegen Spätlinge. Sie müssen von einem Himmelskörper herrühren, der seine innere Wärme lange behalten hat. Er war bis vor kurzem vulkanisch aktiv oder ist es sogar noch. Neben der Erde kommen da nur die Venus oder der Mars in Frage.

der Tissint
Das Prachtstück: der Tissint.
Foto: © Pinter

Das Verhältnis bestimmter Sauerstoff-Isotope variierte im frühen Sonnensystem. Bei den SNC-Meteoriten ist es stets gleich. Sie stammen alle definitiv vom selben Himmelskörper. 1976 analysierten die beiden Viking-Sonden der NASA die Zusammensetzung der Marsatmosphäre. Im irdischen Labor untersuchte man später eingeschlossene Gasblasen in SNC-Meteoriten. Dieser "Vaterschaftstest" fiel positiv aus.

Die SNCs erstarrten aus Magmen, die durch Schmelzvorgänge im Marsmantel entstanden und sich dann an die Oberfläche erbrachen. Tatsächlich findet man auf dem Mars entsprechend frisch anmutende Landschaften - darunter die ausladende Tharsis-Region, deren Vulkane erst vor 100 Millionen Jahren erloschen sein dürften. Einer dieser Vulkane, der Olympus Mons, überragt unseren Mt. Everest um mehr als das Doppelte.

Schon Gustav Tschermak erkannte: Meteorite rühren, ganz allgemein, von unterschiedlichen Himmelskörpern her. Er glaubte, sie wären dort von vulkanischen Kräften ins All geblasen worden. Wie wir heute wissen, schaffen Vulkane ein solches Kunststück nicht. Selbst den mächtigen Marsvulkanen hätte es dazu an Kraft gemangelt.

Diamanten inklusive#

Allerdings musste der Mars etliche Einschläge von Kleinplaneten hinnehmen. Ein 10 km großes Objekt, das mit 36.000 km/h daher schießt, schlägt beim Aufprall einen Krater von 90 km Durchmesser. Am Schauplatz der Katastrophe wird Marsgestein pulverisiert, teilweise geschmolzen oder zumindest arg geschockt. So entstand auch Tschermaks Maskelynit - aus Plagioklas und bei einem Druck von etwa 25 Gigapascal. Um Graphit in Diamanten zu verwandeln, reicht schon ein Viertel dieses Drucks aus. Kein Wunder also, dass man im Tissint-Meteoriten auch winzige Diamanten findet.

Heftige Einschläge beschleunigten einen Bruchteil des getroffenen Gesteins auf mehr als 18.000 km/h - genug, um die vergleichsweise geringe Anziehungskraft des roten Planeten zu überwinden. Einer Modellrechnung nach sollte jeder 25. Brocken davon irgendwann die Erde erreichen. Dank der im All einwirkenden kosmischen Strahlung lässt sich sogar die Reisezeit bestimmen. Nakhlaite und Chassignite waren elf Jahrmillionen unterwegs. Manche Shergottite brauchten nicht einmal eine Million, andere hingegen bis zu fünf Millionen Jahre. Die Shergottite wurden also bei mehreren, unterschiedlichen Einschlagskatastrophen fortkatapultiert.

Der Tissint irrte gut 700.000 Jahre durchs All. Dann, am 18. Juli 2011, drang er in die Erdatmosphäre ein. Seines rasenden Tempos wegen umhüllte ihn eine leuchtende Kugel erhitzter Luft. Der zunächst gelbe, bald grünliche Feuerball schoss über den Nachthimmel Südmarokkos. Er tauchte die Landschaft des Oued Draa Tals in gespenstisches Licht. Die äußerste Schicht des Eindringlings schmolz und verdampfte; er verlor Sekunde um Sekunde an Masse. Dann geriet ihm die Luft fast zur Wand. Er zerbrach. Schließlich gingen die Teilstücke, stark abgebremst, in den freien Fall über. Dabei erstarrte ihre äußerste Schicht zur dünnen, glasigen Schmelzkruste. Mit ungefähr 160 km/h schlugen die Brocken am Erdboden auf.

Drei Monate später entdeckten Nomaden nahe der Ortschaft Tissint die frisch gefallenen Steine: Sie verrieten sich durch ihre glitzernd schwarzen Schmelzkrusten.

Geraubte Marsluft#

Wo die Kruste abgeschlagen war, konnte man ins Innere blicken und bleichgelbe Olivinkristalle in einer grauen Grundmasse ausmachen. Außerdem wurde bald Tschermaks Mineral Maskelynit nachgewiesen; ebenso die Herkunft vom Mars. Wegen der kurzen Verweilzeit auf Erden war der Tissint-Meteorit noch nicht verwittert und kaum mit irdischem Material verunreinigt; ein Plus für die Wissenschafter. NASA, Universitäten und Museen - viele rissen sich um diese Steine, obwohl das Gramm gut zehnmal teurer gehandelt wurde als Gold. Das größte bekannte Einzelstück ergatterte das NHM.

Die Marsmeteorite bilden einen höchst exklusiven Zirkel. Die Datenbank der Meteoritical Society listet im Dezember 2015 insgesamt 61.529 Meteorite auf. Nur 160 davon stammen von unserem Nachbarplaneten. Hiervon stellen die Shergottite 132 Exemplare, die Nakhlaite 15, die Chassignite drei. Die restlichen zehn "Marsianer" entziehen sich den klassischen Kategorien.

Der Shergottit Tissint formte sich vor 600 Millionen Jahren aus Mantelmaterial, das sich als Lava auf die Oberfläche ergoss. Dabei wechselwirkte das Gestein mit stark saurem Wasser. "Marsluft" drang in die Risse ein, die später beim brutalen Abflug versiegelt wurden.

Da sie die Wirkung von Wasser dokumentieren und Spuren der Atmosphäre einfingen, schenken Marsmeteorite den Wissenschaftern Einblick in die geologische und klimatische Geschichte des Planeten. Zumindest am Beginn besaß der Mars eine relativ dichte Kohlendioxidatmosphäre mit Beimischungen von Stickstoff und Wasserdampf. Entsprechend wärmer war seine Oberfläche. Dort floss Wasser beständig oder zumindest episodenweise.

Doch recht bald ging Mars eines Großteils seiner Atmosphäre verlustig und geriet so zum kalten Wüstenplaneten. Wie und wann sich dieses Drama abspielte, vermag niemand mit Sicherheit zu sagen. Jedenfalls verlor der Mars vor etwa vier Milliarden Jahren sein schützendes Magnetfeld: Der Sonnenwind - ein Strom geladener Teilchen - fegte daraufhin die Atmosphäre großteils hinweg. Heute bewirkt das Krustengestein nur noch lokale Magnetfelder. Sie sind zumeist hundertmal schwächer als das Erdmagnetfeld.

Als der Tissint kurz nach dem Einschlag von 310 auf etwa 150 Grad Celsius abkühlte, geschah dies in einem lokalen Magnetfeld von etwa zwei Mikrotesla. In Erinnerung daran trägt er noch einen "fossilen Magnetismus" in sich. Auch an dessen Untersuchung war das NHM beteiligt.

Uralte Substanz#

Die Shergottite sind nach Ansicht der allermeisten Forscher 150 bis 600 Millionen Jahre jung, die Nakhlaite und Chassignite 1,3 Jahrmilliarden. Einige wenige Marsmeteorite übertreffen die SNCs aber im Alter. Einer entstand offenbar vor zwei, andere vor 4,1 bis 4,4 Milliarden Jahren. Aus den langen Zeiträumen dazwischen fehlen uns Proben. Es ist, als wolle man die Handlung eines Spielfilms aus ein paar verstreuten Sequenzen rekonstruieren. Dennoch ergänzen die Marsmeteorite jenes Bild, das man mit Hilfe der Marssonden und der Mars-Rover gewinnt.

Der uralte, in der Antarktis gefundene Meteorit ALH 84001 machte 1996 Schlagzeilen. Der Astrobiologe David McKay sah im Elektronenmikroskop winzige wurmartige Strukturen und deutete diese als fossile Marsbakterien. Sie wären allerdings hundertmal kleiner als irdische Mi-kroben, was in der Fachwelt für Skepsis sorgte. Einige wenige Forscher wollen mittlerweile auch im Nakhla- und im Tissint-Meteoriten Anzeichen für einfaches Marsleben geortet haben. Die überwiegende Mehrzahl der Experten schließt sich solchen Interpretationen aber nicht an.

Christian Pinter, geboren 1959, lebt als freier Journalist in Wien und schreibt seit 1991 über astronomische Themen im "extra".

Wiener Zeitung, Sa./So., 19./20. Dezember 2015