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Theoretische Situierung | 83
„die, indem sie die jeweilige Situation fehlbar interpretierten, von den unverfügbaren Res-
sourcen ihrer Lebenswelt zehren müssen. Dabei wird die Kontingenz der vorgefundenen
Traditionen und Lebensformen ebensowenig verleugnet wie der Pluralismus bestehender
Subkulturen, Weltbilder und Interessenslagen. Andererseits sind die Aktoren an ihre Le-
benswelt nicht nur ausgeliefert. Denn diese kann sich ihrerseits nur über kommunikatives
Handeln, und das heißt über Verständigungsprozesse, die von Ja/Nein-Stellungnahmen zu
kritisierbaren Geltungsansprüchen abhängen, reproduzieren. Die Sollbruchstelle dieses
Nein-sagen-Könnens besiegelt endlich die Freiheit derer, die immer dann, wenn nicht die
schiere Gewalt eingreifen soll, überzeugt werden müssen. Allerdings können Diskurse und
Verhandlungen auch unter solchen idealen Bedingungen ihre problemlösende Kraft nur in
dem Maße entfalten, wie die anfallenden Probleme im Licht reflexiv gewordener, posttra-
ditionaler Überlieferungen sensibel wahrgenommen, adäquat beschrieben und produktiv
beantwortet werden. Eine diskursive Verständigung garantiert zwar die vernünftige Be-
handlung von Themen, Gründen und Informationen; sie bleibt aber auf Kontexte einer
lernfähigen Kultur und eines lernfähigen Personals angewiesen. In dieser Hinsicht können
dogmatische Weltbilder und rigide Muster der Sozialisation für einen diskursiven Verge-
sellschaftungsmodus Sperren bilden.“ (Habermas, 1992: S. 394-395)
Wie Boltanski und Thévenot geht damit auch Jürgen Habermas’ politische Sozi-
altheorie von der hohen Bedeutung der Problematisierung – des Risikos bezie-
hungsweise der Unsicherheit – aus. In der politischen Philosophie von Habermas
ist dies als Möglichkeit gefasst, den routinierten Regelbetrieb des politisch-
administrativen Systems zu durchbrechen und Änderungen in diesem Modus –
Verhandlungen bzw. Deliberation als gemeinsame Suche nach normativ gerahm-
ten, gerechten und richtigen Lösungen – zu ermöglichen. Es geht also in Situati-
onen um die (gemeinsame) Wahrnehmung der Handlungsmöglichkeit, der Lücke
– „there is a crack in everything, that’s how the light gets in“, lautet eine Zeile in
Leonard Cohens Lied „Anthem“. Habermas beschreibt, dass sich der Anlass der
Auseinandersetzung meist nicht auf die regulative Ebene richtet, sondern auf die
normative Ebene.
„In solchen Fällen konfliktreich veränderter Problemwahrnehmungen und Problemlagen
expandiert die Spannweite der Aufmerksamkeit, wobei sich Kontroversen in der breiteren
Öffentlichkeit vor allem an normativen Aspekten der im Brennpunkt stehenden Probleme
entzünden. Der Druck der öffentlichen Meinung erzwingt dann einen außerordentlichen
Problemverarbeitungsmodus, der die rechtsstaatliche Regulierung des Machtkreislaufes
begünstigt, also Sensibilitäten für die verfassungsrechtlich geregelten politischen Verant-
wortlichkeiten aktualisiert.“ (Habermas, 1992: S. 433)
Cultural Governance in Österreich
Eine interpretative Policy-Analyse zu kulturpolitischen Entscheidungsprozessen in Linz und Graz
- Titel
- Cultural Governance in Österreich
- Untertitel
- Eine interpretative Policy-Analyse zu kulturpolitischen Entscheidungsprozessen in Linz und Graz
- Autor
- Anke Simone Schad
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4621-8
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 322
- Schlagwörter
- Political Science and International Studies, Kulturpolitik, Linz, Graz, Europäische Kulturhauptstadt, Demokratie, Cultural Governance, Österreich, Kultur, Kommunalpolitik, Politikwissenschaft, Politik
- Kategorie
- Recht und Politik
Inhaltsverzeichnis
- Abstract 7
- Gliederung des Buches 9
- 1 Prolog zu Cultural Governance: Doing Politics – Making Democracy? 11
- 2 Kultur, Öffentlichkeit und Politik: eine Annäherung 31
- 3 Theoretische Situierung von Cultural Governance 43
- 4 Lokale Situierung der Analyse in Österreich 87
- 5 Methodologische Situierung der Cultural-Governance-Analyse 109
- 5.1 Interpretative Policy-Analyse 109
- 5.2 Fokus auf die Situation 112
- 5.3 Positionierung, Perspektiven und Grenzen des Grounded Theorizing 126
- 5.4 Materialauswahl – der Unterschied zwischen der Fallanalyse und der Situationsanalyse 130
- 5.5 Situations-Mapping: AkteurInnen, Aktanten, weitere Elemente und ihre Wechselbeziehung 140
- 6 Ergebnisse der konkreten Situationsanalyse zur Verhandlung um Kulturförderung 155
- 7 Ergebnisse der Analyse Sozialer Welten in der Arena der Cultural Governance 219
- 7.1 Die Soziale Welt der städtischen Gemeinde 219
- 7.2 Die Soziale Welt der gewählten MandatarInnen (PolitikerInnen) 226
- 7.3 Die Soziale Welt der Kulturbetriebe in der Stadt 231
- 7.4 Die Soziale Welt der MitarbeiterInnen der städtischen Kulturverwaltung 242
- 7.5 Die Soziale Welt der Beiräte 254
- 7.6 Zusammenfassende Analyse der Sozialen Welten in der Arena der Cultural Governance 268
- 7.7 Normative Kriterien für Cultural Governance 271
- 8 Abschließendes Fazit 277
- 9 Anhang 283
- Literatur 293