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238 | Cultural Governance in Österreich
Im Sinne der Governance gab es hier keinen öffentlichen bzw. deliberativen Ent-
scheidungsprozess, sondern ein Lobbying hinter verschlossenen Türen. Hätte
man in dieser Situation auch einen Beratungsprozess mit der Bevölkerung orga-
nisieren können, und wie wäre dieser damals wohl ausgegangen?
Neben richtungsweisenden, in bestem Sinn innovativen Entscheidungen ist das
Handeln im Kulturbetrieb in vielen Bereichen durch Prinzipien der industriellen
Welt vergleichsweise rigid organisiert. Die Begriffe Spielplan oder Ausstel-
lungsprogramm stehen für Ordnung und Kontrolle und sind Mittel der industriel-
len Welt (Boltanski, Thévenot, 2014: S. 280). Spätestens der Übergang von einer
Premiere als einmaligem Ereignis (der bei Theater, Tanz und Musik ein langer
Probenprozess vorangeht und bei einer Ausstellung ein kuratorischer Raum/Ob-
jekt-Ordnungsprozess) zu einem Programm als prozesshaftem Ablauf bedeutet
also, dass das Neue und Unerwartete, Ungesehene, Ungehörte dem Gesehenen,
Gehörten, Geplanten und Organisierten weicht. Hier trifft die Freiheit im Han-
deln (dem nicht-öffentlichen Proben und Planen) auf die Meinungsfreiheit, die
„auf die Anwesenheit Anderer und das Konfrontiert-Werden mit ihren Meinun-
gen angewiesen ist.“ (Arendt, 2003: S. 50) Wo setzt Kunstkritik an? Wer darf
wofür einen inhaltlichen, programmatischen, strategischen Anspruch stellen?
Hier gibt es ebenfalls ein eingeschriebenes Spannungsverhältnis bei Kulturbe-
trieben im öffentlichen Besitz, da mit politisch besetzten Aufsichtsräten eine
Steuerungs- und Kontrollebene besteht, der gegenüber sich die Geschäftsführung
und künstlerische Leitung verantworten muss – auch wenn künstlerische bzw.
kuratorische Entscheidungen „frei“ sind, gibt es immer wieder Verhandlungsbe-
darf zwischen unterschiedlichen (wirtschaftlichen, künstlerischen, Publikums-,
politischen, personellen) Interessen. Diese Verhandlungen werden jedoch für die
Öffentlichkeit nur dann teilweise sichtbar, wenn Probleme aufgedeckt bzw. nach
außen kommuniziert werden – etwa eine nicht ordnungsgemäße kaufmännische
Gestionierung als Ausdruck einer internen ‚bad governance‘.
Auf Seiten der BürgerInnen, die als BesucherInnen in Kultureinrichtungen ein-
treten, bestimmt „die Seele des Hauses“ (Boltanski, Thévenot, 2014: S. 241), ein
System von impliziten Regeln und tradierten Verhaltungsmustern, dass in der
Regel niemand aus dem Publikum ungefragt ins Geschehen auf der Bühne ein-
greift, niemand Kunstwerke unerlaubt berührt, man sich als Einzelner oder
Gruppe von einer Person oder einem Raumplan führen lässt. Akzeptierte, kon-
ventionelle Formen des Protests der BesucherInnen sind es, das Haus schwei-
gend zu verlassen (auch während der Vorstellung), eine kritische Notiz im Gäs-
tebuch zu hinterlassen, wenig bis gar nicht zu applaudieren, die Aufführung aus-
Cultural Governance in Österreich
Eine interpretative Policy-Analyse zu kulturpolitischen Entscheidungsprozessen in Linz und Graz
- Titel
- Cultural Governance in Österreich
- Untertitel
- Eine interpretative Policy-Analyse zu kulturpolitischen Entscheidungsprozessen in Linz und Graz
- Autor
- Anke Simone Schad
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4621-8
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 322
- Schlagwörter
- Political Science and International Studies, Kulturpolitik, Linz, Graz, Europäische Kulturhauptstadt, Demokratie, Cultural Governance, Österreich, Kultur, Kommunalpolitik, Politikwissenschaft, Politik
- Kategorie
- Recht und Politik
Inhaltsverzeichnis
- Abstract 7
- Gliederung des Buches 9
- 1 Prolog zu Cultural Governance: Doing Politics – Making Democracy? 11
- 2 Kultur, Öffentlichkeit und Politik: eine Annäherung 31
- 3 Theoretische Situierung von Cultural Governance 43
- 4 Lokale Situierung der Analyse in Österreich 87
- 5 Methodologische Situierung der Cultural-Governance-Analyse 109
- 5.1 Interpretative Policy-Analyse 109
- 5.2 Fokus auf die Situation 112
- 5.3 Positionierung, Perspektiven und Grenzen des Grounded Theorizing 126
- 5.4 Materialauswahl – der Unterschied zwischen der Fallanalyse und der Situationsanalyse 130
- 5.5 Situations-Mapping: AkteurInnen, Aktanten, weitere Elemente und ihre Wechselbeziehung 140
- 6 Ergebnisse der konkreten Situationsanalyse zur Verhandlung um Kulturförderung 155
- 7 Ergebnisse der Analyse Sozialer Welten in der Arena der Cultural Governance 219
- 7.1 Die Soziale Welt der städtischen Gemeinde 219
- 7.2 Die Soziale Welt der gewählten MandatarInnen (PolitikerInnen) 226
- 7.3 Die Soziale Welt der Kulturbetriebe in der Stadt 231
- 7.4 Die Soziale Welt der MitarbeiterInnen der städtischen Kulturverwaltung 242
- 7.5 Die Soziale Welt der Beiräte 254
- 7.6 Zusammenfassende Analyse der Sozialen Welten in der Arena der Cultural Governance 268
- 7.7 Normative Kriterien für Cultural Governance 271
- 8 Abschließendes Fazit 277
- 9 Anhang 283
- Literatur 293