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19Einleitung
Absolutismus«18 verhandelt wurde, lässt sich unter diesem Blickwin-
kel nicht mehr als einseitige Zwangsbeglückung von oben deuten,
sondern als Vorgang, der eine Pluralisierung von Handlungsspielräu-
men bedeutete, also eine große Bandbreite von Akteuren in seinen Sog
geraten ließ. Der Staat ist somit nicht mehr als allmächtige Regula-
tions- und Allokationsinstanz zu verstehen, die Ressourcen verteilte
und Vorgaben überstülpte; vielmehr erscheint er als eine Art Relais, in
das verschiedene Akteure ihre Inhalte einschleusten, während sie um
den Einspeisungsvorrang und um die Geltungsmacht ihrer Konzepte
wetteiferten.
Wer sich in diesem Kontext »Aufklärung« auf die Fahnen heftete,
erhob den Anspruch, neuartiges und nützliches Wissen zu produzie-
ren. Der Staatsbildungsprozess im Zeichen der Aufklärung definierte
sich zwar über eine scharfe Abgrenzung von der Vergangenheit, die
Ziele, prioritären Bereiche und probaten Mittel der Reformen blie-
ben aber seit Maria Theresia umstritten.19 Hier überschnitten sich die
Bestrebungen der beteiligten Akteure, die jeweils aus der Schubkraft
ihrer eigenen Geschichte heraus handelten und diese Vorprägungen
nicht abschütteln konnten.20
Die Staatsbildung unter der Ägide der Aufklärung etablierte einen
pfadabhängigen Prozess, der in Bürgerstuben und Salons, Pfarrhäu-
sern und Kanzleien, gemeinnützigen Gesellschaften und Hörsälen
gleichermaßen wirksam wurde.21 Er veränderte auf tiefgreifende Weise
ska 2009, Brno 2010, 89-106; Antonín Kostlán (Hg.), Societas Incognitorum.
První učená společnost v českých zemích [Societas Incognitorum. Die erste
gelehrte Gesellschaft in den böhmischen Ländern], Praha 1996.
18 Franz L. Fillafer, u. Mitarbeit v. Thomas Wallnig, Einleitung, in: dies. (Hg.),
Josephinismus zwischen den Regimen, 7-50, 21-25.
19 Anhand der Kirchenreform Kap. II.4.
20 »[I]t may be predicted that any society may have as many pasts as it has ele-
ments of continuity, and that different individuals may be aware of different
pasts, varying as they are associated with different activities, structures or
other elements of continuity.« J. G. A. Pocock, The Origins of Study of the
Past: A Comparative Approach, in: Com 4 (1962), 209-246, 212.
21 Luzide Franz A. J. Szabo, Cameralism, Josephinism, and Enlightenment:
The Dynamic of Reform in the Habsburg Monarchy, 1740-92, in: AHY 49
(2018), 1-14, 14: »Because reform impulses and ideas came as much from
the bottom up as from the top down, we must really think of the reform
process engaging a wide-ranging sociopolitical spectrum of society—or to
put it more succinctly—creating a broad regime of enlightened absolutism
[…] [T]he responses to a perceived crisis of state and society were often as
hostile to each other as they were to the antiquated body politic they hoped
to replace.«
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513