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32 Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848
den 1830er Jahren eine rückwirkende Reinschrift seiner Erlebnisse aus
dem Jahr 1790 verfasste:
Hier [in Prag] hatte der Druck, welchen Kaiser Joseph [II.] den
Ständen empfinden ließ, einen Nationalismus erweckt, der lange
geschlummert hatte. K[aiser] Joseph, der alles zentralisieren wollte,
suchte auch die čechische Zunge zu unterdrücken; dieses Palladium
der Nationalität lässt sich aber kein Volk rauben. Unverabredet
hörte man in den Vorsälen bei Hofe alle, die der Muttersprache
mächtig waren, böhmisch sprechen. Kaiser Leopold, dessen Regie-
rung in Toscana ein für ihn günstiges Vorurteil verbreitet hatte,
bemerkte sehr wohl die Lage der Dinge, und zeigte sich bereitwillig
die Rechte der Nation zu schützen […].27
Der Landespatriotismus fungierte als Matrix für den liebevollen Dienst
an der mehrsprachigen Patria. Die als einheitsstiftendes Projekt unter-
nommene Erschließung und Aufbereitung der Geschichte des Vater-
landes sollte aber im frühen 19. Jahrhundert rivalisierende normative
Vergangenheiten zutage fördern: Die Mittelaltereuphorie der Roman-
tik führte zur Wiederentdeckung gotischer Kunstwerke, die Gotik er-
schien als eng mit »dem öffentlichen Leben« ihrer Epoche verbundene
Kunst.28 Einhellig war diese Begeisterung nicht. Den klassizistisch
und empfindsam geprägten spätaufklärerischen Patrioten galt die go-
tische Kunst, die nun von Restauratoren, Künstlern und romantischen
27 Leben des Grafen Kaspar Sternberg, von ihm selbst geschrieben. Nebst einem
akademischen Vortrag über der Grafen Kaspar und Franz Sternberg Leben
und Werk für Wissenschaft und Kunst in Böhmen, hg. v. František Palacký,
Prag 1868, 38. Vgl. kontrastiv das Landtagsdiarium von Kaspars Bruder
Franz, SOA, Státní okresní archiv Praha-východ se sídlem v Přemyšlení,
Práškovu pozůstalost, karton 7, und Justin Václav Prášek, Panování císaře a
krále Leopolda II. [Die Regierung von Kaiser und König Leopold II.], Praha
1904, 160-170.
28 »Wenden wir uns […] zum eigentlichen Inhalt der Lieder unserer alten Meis-
ter, so wird hier natürlich zuerst jene engere Verbindung uns ansprechen, in
der damals die Kunst mit dem öffentlichen Leben stand; eine Erscheinung,
die, in den Zeiten des sogenannten Jahrhunderts der Aufklärung wie ganz
dahin geschwunden, erst seit fünf Jahren unter uns durch mächtige Antriebe
wieder hervorgerufen wurde; bis dahin schien es, als ob unsere Dichtkunst
kein höheres, besseres Ziel habe, als aller Wirklichkeit entrückt sich im blo-
ßen Schattenreich der Phantasie ohne Vaterland und Örtlichkeit anzubauen
[…].« B. J. Docen, Ueber die deutschen Liederdichter seit dem Erlöschen der
Hohenstaufen bis auf die Zeiten Kaiser Ludwigs des Bayern, in: Archiv 12
(1821), 197-204, 203.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513