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40 Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848
Während der Napoleonischen Kriege hatte Hormayr mit seiner
Zeitschrift, dem Archiv für Geographie, Geschichte, Staats- und Kriegs-
kunst, an der Sakralisierung der deutschen Sprachnation als Abstam-
mungsgemeinschaft gearbeitet: Hormayr formulierte eine neue histori-
sche Poetik, in der die Nation der absolute geschichtsmächtige Souverän
war. Für die etablierte Staats- und Gesellschaftsordnung war das eine
Provokation, weil in Hormayrs Szenario einer durch das heilige Band
der Sprache zusammengefügten Nation die traditionellen, horizontalen
und vertikalen Solidaritätsbezüge zu den Nachbarvölkern im kaiser-
lichen Staatenverein sowie zum Monarchen keine Rolle mehr spielten.51
Hormayr griff hier das Postulat der Französischen Revolution, die auf
politischem Wege im Staatswesen vereinte Nation auf, ersetzte aber
den einheitsstiftenden Faktor der Volkssouveränität durch jenen der
Sprachnation: So mobilisierte er eine nach dem Vorbild Frankreichs
geformte, aber inhaltlich neu aufgeladene Ressource gegen die ex-
pansive Revolution. Nach seiner Haftentlassung und Rehabilitierung
passte Hormayr das Patriotismusmodell des Archivs den Vorgaben der
Hofkanzlei und der Zensur an, indem er seine deutschnationalen Aspi-
rationen durch eine gesamtmonarchische Vaterlandsliebe ersetzte, für
die alle Nationen des Kaisertums gleich viel gelten sollten. Hormayr
lobte strategisch die Vielfalt der Monarchie als Bastion gegen die nivel-
lierende Volkssouveränität,52 konzipierte aber unter dem Deckmantel
des Pluralismus die Patriotismen der anderen Völker der Monarchie
nach dem Modell jenes Sprachnationalismus, von dem er sich nominell
distanziert hatte.53
Mit der Sakralisierung der Sprachnation, die für Hormayr verbind-
licher Maßstab des echten Patriotismus war, untergrub er die von ihm
proklamierte gesamtmonarchische Vaterlandsliebe. Zugleich hatte diese
Apotheose der Sprachnation eine emanzipative Note: Während die De-
mokratisierung des Gemeinwesens unter der Prämisse der Volkssouve-
ränität unterblieb, erlaubte die Sprachnation eine Demokratisierung der
Kultur. Hormayr und seine Mitarbeiter verarbeiteten ein Kulturmodell,
51 Puchalski, Imaginärer Name Österreich, 73-74; [Anonym,] Kein Patrio-
tismus ohne Liebe der Muttersprache, in: Archiv 1 (1810), 571-575, 572:
»Jede wahre naturgemäße Geistesentwickelung wird von einem Fortschritte
in der Ausbildung der Nationalsprache begleitet seyn.«
52 [Hormayr?,] Blicke auf die Nationalität der Kunst, in: Archiv 16 (1825),
170-174, 182.
53 Vgl. jüngst Gábor Almási, Faking the National Spirit. Spurious Historical
Documents in the Service of the Hungarian National Movement in the Early
Nineteenth Century, in: HHR 5 (2016), 225-249.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513