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56 Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848
die lichte Flamme der Begeisterung in seiner Seele, feuriges Blut
rollt in seinen Adern […] Seine Muttersprache ist deutsch; ist er
darum ein Deutscher? Nein. Kosmopolit? Nein. Soll die Vorzeit
seines Geburtslandes ihm ein Selbstgefühl einflößen, seiner jungen
durstigen Phantasie eine Quelle, dem schwankenden Stamme sei-
nes Geistes eine Stütze sein? – Das Clima, die Landschaften seiner
Heimath mag er besingen, aber die Geschichte, ob er nun ein Pole,
Ungar, Böhme, oder was er sei, die Geschichte seines Vaterlan-
des ist anti-österreichisch. Soll daher seine Muse je laut werden, so
muß sie gut kaiserlich sein. Wie aber soll er sich als Oesterreicher
fühlen? Was knüpft sich für ihn an den Namen Oesterreich, als die
Erinnerung an untergegangene Sterne seines eigenen Vaterlandes?
Oder soll er vielleicht der abstrakten Ausgeburt eines politischen
Systems Fleisch und Blut geben? Unter welchem Bilde soll er Oes-
terreich fassen? Welches ist das Symbol seines Vaterlandes, das er in
den Träumen seiner Jugend brünstig an die glühenden Lippen hielt?
Etwa der schwarze, zweiköpfige Adler, der über dem Rathhause,
der Kaserne und den Tabaktrafiquen seiner Mutterstadt hängt?95
Peter Hanák hat das Dilemma der »führenden österreichischen Schich-
ten« in der postjosephinischen Ära analysiert, deren »Staatspatriotis-
mus« sich in der Loyalität zu einer »politisch verwalteten Gesellschaft«
erschöpfte: Diese Schichten übten Kritik an der »absolutistischen und
unpatriotischen Regierung«, verschlossen sich zugleich aber »vor allen
ethnischen Nationalbewegungen«, einschließlich der deutschen Vari-
ante derselben. Hanák hat diese Haltung der österreichischen Intel-
ligenz treffend als »intra muros-Effekt« bezeichnet.96 Der Übergang
vom Kosmopolitismus zum national verankerten Weltbürgertum
stellte die deutschösterreichischen Liberalen also vor zwei Probleme:
Zum einen diskutierten sie, ob sie als deutschsprachige Bürger inner-
halb der Monarchie überhaupt ein erinnertes Vaterland, ein »Vaterland
95 Jakob Kaufmann, Die Literatur in Wien [1835], in: Zeitung für die elegante
Welt, red. v. G. Kühne, 39 (1839), Nr. 136, 15. 6. 1839, 541-542, zit. in der
unentbehrlichen Anthologie von Madeleine Rietra (Hg.), Jung Österreich.
Dokumente und Materialien zur österreichischen Opposition, 1830-1848,
Amsterdam 1980, 116-117.
96 Peter Hanák, Österreichischer Staatspatriotismus im Zeitalter des aufsteigen-
den Nationalismus, in: Reinhard Urbach (Hg.), Wien und Europa zwischen
den Revolutionen, 1789-1848, Wien 1978, 325-326, 319. Die ausgezeichnete
Darstellung von Peter Kuranda, Großdeutschland und Großösterreich bei
den Hauptvertretern der deutsch-österreichischen Literatur, 1830-1848,
Wien 1928, ist in der Forschung kaum berücksichtigt worden.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513