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87Die
katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment
Die Etablierung der Riegger-Schule im Kirchenrecht verlief alles
andere als reibungslos. Rieggers Matrix der natürlichen Religion und
sein Implantieren naturrechtlicher Szenarien stießen in Juristenfakul-
täten und Klosterakademien auf Widerstand. Zudem wurden Riegger
methodische Schnitzer vorgeworfen: Die historischen Begründun-
gen aus Rechtsbrauch, Dekretalen und Verordnungen in ecclesiasticis
ließen sich nicht akkurat in ein »natürliches System« einfügen, das
sich um das Zentralinstitut des Vertrags gruppierte.52 Rieggers Natur-
recht beanspruchte ja, alle ursprünglichen und derivativen Besitztypen
ebenso begründen zu können, wie die Steuerbefreiung des Klerus, den
natürlichen Zinssatz und den gerechten Preis (iustum praetium).53 Ju-
ristenkollegen rügten Riegger dafür, dass dieser der Ordnung des ka-
nonischen Dekretalensystems, die er als Gliederungsmuster beibehielt,
das römischrechtliche Gaiusschema, die Dreiteilung nach personae, res
und actiones, überstülpte, was etwa im Pfründerecht zu einer schrägen
Dogmatik führte. So entstanden Schieflagen in der Stoffanordnung:
Das Güterveräußerungsverbot siedelte Riegger im Personenteil an, die
Modalitäten der Ämterwahl im Rechtsteil, die fürstlichen Eingriffs-
rechte kamen in den Sachenteil.54 Schließlich wurde Rieggers Modell
der Querschnittsbereiche, der essentialia mixta zwischen Kirche und
Staat beanstandet und getadelt, dass er die Mitgliedschaft des Men-
schen in zwei Gesellschaften, Staat und Kirche, postulierte.55 Riegger
selbst lehnte die reine, geometrisch-mathematische Methode Wolffs
als Einfallstor für den Skeptizismus ab,56 pflichtete Wolff aber gegen
Christian Thomasius darin bei, dass der cultus externus, das religiöse
Ritual, durchaus aus der Vernunft begründbar sei.57
chenrecht des 18. und 19. Jahrhunderts (ca. 1680 bis ca. 1850), Tübingen 2012,
135. Zur landesfürstl. Jurisdiktion über Eide und Kirchenasyl ebda., 153-154.
52 Notker Hammerstein, Justus Möser und die Reichs-Publicistik, in: JMF 2
(1994), 69-85.
53 Seifert, Riegger, 329.
54 Hahn, Staat und Kirche im deutschen Naturrecht, 149.
55 Seifert, Riegger, 332, 335.
56 Ebda., 326: »id unum volo, propositam veritatem non in auctorum ita sen-
tientium numero positam esse, quae scholasticorum fere methodus est, sed
in principiorum, quibus innutuntur, firmitate.« Die Offenbarung ist für die
Erreichung der Glückseligkeit zwingend notwendig, ebda., 30; zur legislatio
divina beruft sich Riegger auf Mt 22,21: ƪҮƢƮƳƱƨƬ ƠҏƲԚ ƑƠҲƱƠƯƮư ƲҴƲƤ
ƪҮƢƤƨ ƠҏƲƮԃư я ҴƣƮƲƤ ƮҕƬ Ʋҫ ƑƠҲƱƠƯƮư ƑƠҲƱƠƯƨ ƩƠұ Ʋҫ ƲƮԏ ƧƤƮԏ ƲԚ ƧƤԚ.
57 Seifert, Riegger, 299, »in lege evangelica nullum contineri praeceptum, quod non
sit naturale, exceptis his, quae pertinent ad fidem et ad sacramenta«, ebda., 303.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513