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88 Die katholische Aufklärung
In seinem Lehrbuch des Kirchenrechts bewies Riegger die Notwen-
digkeit des Rituals aus der Vernunft, die so die Gnadengabe der Offen-
barung aktualisierte. Was Riegger mit seinem Werk schuldig blieb, war
die Begründung der Alleingültigkeit des seligmachenden katholischen
Glaubens, hier blieben Konfession und Gewissen des Landesfürs-
ten ausschlaggebend. Eben diese Mängel des neuen Systems wurden
von Rieggers Zeitgenossen angeprangert und auf die naturrechtlichen
Elemente zurückgeführt, die er in das staatskirchenrechtliche Inter-
pretationsverfahren eingeführt hatte. Dennoch wurde Rieggers Lehre
rasch schulbildend. Ab den 1770er Jahren sollten seine Schüler und
Mitarbeiter das kirchliche Vermögen vollends der Verfügungsgewalt
des Monarchen unterstellen und die Kirche zunehmend als Anstalt für
die sittliche Veredelung der Bürger begreifen.58
Auch im Bereich des Ketzerrechts und der Toleranzpolitik zeich-
nete sich eine Tendenzwende ab: Die ältere Generation der Kir-
chenrechtler hatte die Gewissensfreiheit auf den gedanklichen Bereich
beschränkt. Für Riegger bedingte die legitime Gewissensfreiheit kei-
neswegs die notwendige Duldung von Nichtkatholiken, deren Ritu-
ale die Ausübung des katholischen Glaubens störten. Akatholiken,
wie sie in der Diktion der Zeit hießen, genossen in manchen Städten
und Landstrichen befristete Privilegien, hierbei handelte es sich um
Freiheiten im Plural, nicht um eine verbriefte Religionsfreiheit.59 Der
Vorrang des katholischen Glaubens im öffentlichen Raum blieb unan-
getastet. Protestanten hatten etwa vor dem Altarsakrament das Knie
zu beugen, wenn es von Priestern durch die Straßen geleitet wurde;
Juden sollten des Allerheiligsten gar nicht erst ansichtig werden, sie
hatten in ihren Häusern zu bleiben und durften sich nicht einmal am
Fenster zeigen, wenn das Venerabile vorbeigetragen wurde.60 Alle
Akatholiken blieben bis in die 1780er Jahre vom Promotionsrecht an
den erbländischen Universitäten ausgeschlossen, da der Abschluss mit
einem Eid des Promovenden auf die unbefleckte Empfängnis Mari-
ens verbunden war.61 So blieb die Toleranz für Akatholiken auch bei
Riegger eine nachgeordnete Möglichkeit, sie war kein verfassungsmä-
ßiger Rechtstitel, als tolerantia gratiosa wurde sie nach fürstlichem
Gutdünken ausgewählten Gruppen gewährt, die damit ein örtlich und
58 Engelbert Plassmann, Staatskirchenrechtliche Grundgedanken der deutschen
Kanonisten an der Wende vom 18. zum 19.
Jahrhundert, Freiburg 1968, 9-16.
59 Vgl. Kap. III.3 u. III.6.
60 Stollberg-Rilinger, Maria Theresia, 577.
61 Guido Kisch, Die Prager Universität und die Juden, 1348-1848. Mit Beiträ-
gen zur Geschichte des Medizinstudiums, Amsterdam 1969, 51-60.
Aufklärung habsburgisch
Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Title
- Aufklärung habsburgisch
- Subtitle
- Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850
- Author
- Franz Leander Fillafer
- Publisher
- Wallstein Verlag
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- ISBN
- 978-3-8353-3745-9
- Size
- 14.0 x 22.2 cm
- Pages
- 628
- Keywords
- Aufklärung, Österreich, Habsburger, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, Revolution, Geschichtsbild, Wissensgeschichte
- Categories
- Geschichte Vor 1918
Table of contents
- Einleitung 11
- I. Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 23
- 1. Der Patriotismus des Joseph von Sonnenfels 24
- 2. Der Landespatriotismus: Vom mehrsprachigen Vaterland zu den rivalisierenden Vergangenheiten seiner Nationen 30
- 3. Revolutionsabwehr, Sprachnationalismus und dynastische Loyalität: Joseph von Hormayr als Historiker 39
- 4. Zwischenresümee 49
- 5. Das Weltbürgertum der Völkerfreundschaft 51
- 6. 1848 und die Krise der liberalen Völkerfreundschaft 57
- Ergebnisse 64
- II. Die katholische Aufklärung 67
- 1. Der Josephinismus als »große Erzählung« der österreichischen Geschichte 67
- 2. Die theresianischen Reformen 71
- 3. Zwischen Barock und Aufklärung: Gelehrsamkeit, Kunst und Lebenspraxis 76
- 4. Die katholischen Reformer und das landesfürstliche Kirchenregiment 83
- 5. Barockbewältigung: Scholastiksatire und Patriotismuskonkurrenz im maria-theresianischen Prag 96
- 6. Das Methodentableau der katholischen Aufklärung 107
- 7. Newtonaneignung im katholischen Milieu: Von der Gotteserkenntnis zur Weltstruktur 110
- Ergebnisse 122
- III. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar 125
- 1. Honigmond. Der antirevolutionäre Schulterschluss von Kirche und Erzhaus in den 1790er Jahren 125
- 2. Restaurative Geschichtspolitik und Sozialdiagnose 137
- 3. Von der Gemeinschaft der Rechtgläubigen zum überkonfessionellen Rechtsstaat: Kultusrecht und Staatshandeln im Vormärz 152
- 4. Die Selbstprovinzialisierung des restaurativen Katholizismus 160
- 5. Für Gott und Vaterland: Das Erbe der Aufklärung und die Rolle der Katholiken in der »nationalen Wiedergeburt« 163
- 6. Imperiale Integration durch konfessionelle Geopolitik: Von der barocken Rekatholisierung zum Austroslawismu Bartholomäus Kopitars 174
- 7. Wissenschaftspolitik und Theologie im Völkerfrühling: Die liberalen Katholiken zwischen Revolution und Konkordat 181
- Ergebnisse 192
- IV. Wissenskulturen des Vormärz 197
- 1. Kant im restaurativen Wissensregime 199
- 2. Bernard Bolzano und das Erbe der Leibniz-Wolff’schen Scholastik 209
- 3. Bolzanisten versus Herbartianer 219
- 4. Welches positive Wissen? Bibelhermeneutik und liberale Physik 223
- 5. Positivität und Restauration. Der wissensgeschichtliche und ästhetisch-politische Kontext 240
- 6. Eine Art Schadensabwicklung. Die postrevolutionäre Konstruktion der »österreichischen Philosophie« 248
- Ergebnisse 252
- V. Vom Merkantilregime zum Binnenmarkt: Die Monarchie als Wirtschaftsraum 255
- 1. Der Grunduntertan als Staatsbürger und Eigentümer: Die aufgeklärte Agrarpolitik und ihre Folgen 258
- 2. Die Patrimonialrechte in der Erwerbsgesellschaft 274
- 3. Sonnenfels’ Œuvre 278
- 4. Rivalisierende Aufklärungen: Merkantilismus und Vernunftrecht 284
- 5. Sonnenfels und die Nachwelt: Der Staat als bürgerlicher Verein 291
- 6. Die Liberalkatholiken als politische Ökonomen 303
- 7. Zwischenresümee: Aufklärungserbe und ökonomischer Liberalismus 309
- 8. Der Gesamtstaat als Wirtschaftsunion 310
- 9. Ungarn in der Donaumonarchie: Wirtschafts- und Verfassungspolitik von Joseph II. bis 1848 315
- Ergebnisse 331
- VI. Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte 335
- 1. Sonnenfels versus Zeiller. Der Zielkonflikt zwischen Verfassungs- und Privatrechtskodifikation in den 1790er Jahren 339
- 2. Der Kantianismus in der Rechtswissenschaft. Franz von Zeiller und sein Erbe 354
- 3. Die Politik des Metapolitischen. Zeillers Gesetzgebungstechnik und das »natürliche Recht« 361
- 4. Das natürliche Recht und die Privatisierung der ständischen Herrschaftsteilhabe 373
- 5. Die Wissenschaftsgeschichte des Rechts und die Gesamtmonarchie: Ein Zwischenresümee 381
- 6. Naturrechtskodifikation und Gesetzesexegese: Die Auslegungspraxis des ABGB 383
- 7. Rechtsstaat und Gewaltenteilung im Vormärz 388
- 8. Gesellschaftsvertrag und Revolutionsprävention: Das natürliche öffentliche Recht als Basisepistem 401
- 9. Ursprung ist das Ziel. Patriotische Rechtshistorie und parlamentarische Repräsentation im Vormärz 407
- 10. Vertrag als Fiktion. Die Naturrechtskritik der Junghegelianer 418
- 11. Pandektenkur. Der Siegeszug der historisch- römischrechtlichen Schule nach 1848 423
- Ergebnisse 443
- VII. Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr: Selbst- und Feindbilder der Restauration 455
- 1. Die Josephiner und die Revolution 455
- 2. Carl von Kübecks Lehrjahre. Eine Vignette 467
- 3. Josephiner versus Romantiker 471
- 4. Der innere Feind. Zur Metaphern- und Sozialgeschichte der Restauration 476
- 5. Opferkonkurrenz als Erinnerungskonkurrenz: Die Geschichtspolitik des Jahres 1848 und des Neoabsolutismus 489
- Ergebnisse 492
- VIII. Überblick 497
- IX. Was war Aufklärung? 513